Nr. 2
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Adriano Mannino über gerechte Verteilung knapper Ressourcen

Der Moralphilosoph hat während der Pandemie ein Buch über Triage geschrieben: die Aufteilung knapper medizinischer Ressourcen in Notsituationen. Das Konzept überträgt er auf Bereiche wie Entwicklungszusammenarbeit und Katastrophenprävention. Wie lassen sich knappe Ressourcen gerecht verteilen? Wie sollen Tiere und noch ungeborene Menschen einbezogen werden?

Adriano Mannino über die gerechte Verteilung knapper Ressourcen

Herzlich willkommen bei der zweiten Folge von Wirklich Gut, dem neuen Interview-Podcast über gute Ideen für große Probleme. Ich bin Sarah Emminghaus und ich arbeite als freie Journalistin in Berlin. Für den Podcast spreche ich mit Menschen darüber, wie wir Fortschritte machen können bei wichtigen globalen Themen - und das möglichst evidenzbasiert und effektiv.

Ich spreche in dem Podcast mit Experten und Expertinnen darüber, was passieren muss, damit es mehr Menschen besser geht - nicht nur heute, sondern auch künftigen Generationen. Mich interessieren dabei Themen, die global gesehen besonders wichtig und bisher eher vernachlässigt sind.

In den Gesprächen wird es um Armut gehen, um globale Gesundheit, aber auch um den Klimawandel und etwa um künstliche Intelligenz.


Für die heutige Folge habe ich mit Adriano Mannino gesprochen. Adriano ist Moralphilosoph, Politikberater und forscht an der Ludwigs-Maximilians-Universität in München. Er veröffentlicht regelmäßig aus philosophischer Perspektive seine Gedanken zu aktuellen Themen. Während der Corona-Pandemie hat er ein Buch über das Thema Triage geschrieben - also die Aufteilung knapper medizinischer Ressourcen in Notsituationen. Adriano und ich sprechen über Kriterien, die medizinisches Personal bei diesen Triage-Entscheidungen anlegen kann - umstrittene wie das Alter von Patient*innen und weniger umstrittene wie die Erfolgsprognose einer Behandlung.
Außerdem besprechen wir, wie sich die Aufteilung knapper Ressourcen auch auf andere Entscheidungen übertragen lässt, zum Beispiel auf das eigene Spendenverhalten und Katastrophenprävention. Am Ende machen wir noch einen Abstecher zur moralischen Bewertung von Tieren und Adriano erzählt, warum er sich gerade besonders für die Stärkung von Demokratie interessiert.

Bei Feedback zur Folge meldet euch gerne bei mir, schreibt mir einfach eine Mail unter hallo@wirklichgut-podcast.de oder schreibt mir bei Twitter unter Wirklich Unterstrich Gut.

Viel Spaß bei der zweiten Folge des Wirklich Gut-Podcasts mit Adriano Mannino!

Sarah: Dann kann es losgehen. Ja, schön, dass du da bist, Adriano und ich freue mich sehr auf unser Gespräch. Was deine Themenfelder angeht, gibt es ja unheimlich viel. Du bist politischer Philosoph, beschäftigst sich mit Gerechtigkeit, Demokratie, Politikberatung. Kannst du vielleicht zu Beginn mal sagen, warum du das alles machst, was dich bei deinen ganzen Themenfeldern und deiner Arbeit antreibt?

Adriano: Einerseits ist es die philosophische Neugierde ganz einfach, die mich schon ja seit, weiß nicht, zwanzig Jahren vielleicht begleitet. Mit 10, 11, 12 habe ich damit begonnen, philosophische Literatur zu lesen und das hat mich unglaublich fasziniert. Intellektuell. Es hat mich aber auch existenziell berührt. Ich mache praktische Philosophie, Moralphilosophie, Ethik und politische Philosophie. Und das kann man natürlich auch wirklich rein aus Forscherneugierde betreiben. Wenn man wissen will, was plausiblerweise der Fall ist und was man vielleicht begründet glauben kann in diesen Bereichen, dann kann das ganz spannend sein. Das ist ein Aspekt. Und der andere ist natürlich der, dass man - in der praktischen Philosophie geht's, um mit Kant zu sprechen, um die Frage: Was soll ich tun? Oder vielleicht kollektiv formuliert: Was sollen wir tun, was ist zu tun gut? Etwas pathetisch vielleicht auch: Wie kann man die Welt verbessern? Welche Handlungsweisen führen zu einer besseren Welt? Und das kann einen natürlich schon auch persönlich, sozusagen existenziell, betreffen und durchaus auch motivieren, dann in dem Bereich zu forschen und halt wirklich diesen Fragen, diesen sehr oft auch vertrackten Fragen auf den Grund zu gehen. Es ist diese doppelte Motivation, intellektuelle Neugier, aber auch eine gewisse existenzielle moralische Betroffenheit halt und der Wunsch, vielleicht auch ein gewisses Sinnstreben, das reicht natürlich auch über einen selbst hinaus, in die weite Welt hinein. Und diese Frage: Wie soll ich handeln? Was soll ich tun? Individuell, gesellschaftlich? Wie kann ich mich sinnvoll einbringen, so dass das auch etwas bewirkt?

Sarah: Wo siehst du denn da den weltverbesserischen, praktischen Aspekt? Was kann Philosophie, wie du sie betreibst und wie du sie erforschst, denn an der Welt verbessern, verändern?

Adriano: Ja, das wäre herauszufinden. Dabei geht man natürlich auch mit vielen intuitiven Urteilen. Es ist zum Beispiel extrem intuitiv, zum Beispiel intensives, ungewolltes Leiden für schlecht zu halten und für etwas zu halten, was die Welt unstrittig schlechter macht. Und dann könnten wir uns zum Beispiel im Sinne einer ersten Heuristik vielleicht auf die Suche nach hoch intensiven Leidquellen in der weiten Welt da draußen machen und dann vielleicht auch versuchen zu quantifizieren: Wo treffen wir vielleicht auf das meiste Leiden, was auch sinnvoll reduzierbar ist und so weiter. Aber das führt direkt, natürlich führt direkt in tiefe philosophische Gewässer. Inwieweit kann man da abwägen und aufrechnen, inwieweit nicht? Also da haben wir unterschiedliche Moral, philosophische Traditionen, den Kantianismus, dann Kontraktualismus, den Utilitarismus und weitere mehr, die sich da seit Jahrhunderten mindestens über entsprechende Fragen streiten. Aber ja, man beginnt mit intuitiven Urteilen und prüft die dann nach dem Lichte anderer Urteile, im Lichte vielleicht auch empirischer Daten. Man prüft das eigene Überzeugungssystem in dem Bereich ja auf Kohärenz, auf Konsistenz. Und entsprechend versucht man dann noch praktische Schlussfolgerungen zu gewinnen für das individuelle Handeln, aber auch das kollektive politische Handeln.

Sarah: Wir wollten uns schon vor einigen Wochen treffen. Das mussten wir leider ein paar Mal verschieben und als wir uns das erste Mal treffen wollten und über das Thema Triage, um das es nämlich in deinem vor kurzem erschienenen Buch geht sprechen wollten, war das Thema gerade nicht so aktuell. Und auf einmal reden wieder alle über Triage, weil sich die Situation in der Pandemie wieder sehr, sehr stark verschärft hatErst mal kurz zu Triage als Begriff: Bei Triage-Entscheidungen geht es ja kurz gesagt um Situationen, in denen knappe medizinische Ressourcen, also etwa Beatmungsgeräte oder Krankenhausbetten auf Patient*innen zu verteilen sind. Und in deinem Buch schreibst du unter anderem über unterschiedliche Kriterien, die man beim Triagieren berücksichtigen kann, gehst auch auf die Thematik abwägen - nicht abwägen ein und dahingehend auch auf einige wirklich zentrale moralische Fragen. Kannst du vielleicht mal selbst beschreiben, was du unter Triage verstehst und was du mit deinem Buch erreichen wolltest?

Adriano: Ja, genau. Also wenn wir vielleicht bei dem Begriff beginnen, du hast es eigentlich gesagt: Etymologisch stammt der Begriff aus dem Französischen: "Trier" steht für sichten, sortieren, auswählen. Die Praxis der Triage geht zurück insbesondere auf kriegsmedizinische, katastrophenmedizinische Kontexte. Da mussten Militärärzte natürlich immer schon auswählen, insbesondere unter verletzten Soldaten auf dem Schlachtfeld, wer behandelt werden sollte und wer nicht. Das ist eigentlich der Hauptkontext, aus dem diese Praxis historisch hervorging. Es sind Situationen, in denen man nolens volens auswählen muss als Arzt oder Ärztin, wer überlebt und wer stirbt. Also man kann sich vorstellen, dass beispielsweise im Kontext einer Pandemie die Intensivstationen volllaufen und dann irgendwann halt letzte Beatmungsgeräte oder Intensivbetten - es ist ja nicht nur das Gerät, es sind auch die personellen Ressourcen, die dann knapp werden. Es wird aktuell ja auch diskutiert medial. Und dann stellt sich die Frage nach der verteilungsgerechten Handlungsweise in diesen Konfliktsituationen. Und da gibt es unterschiedliche mögliche Kriterien, die man anwenden kann oder eben auch nicht. Und ja, sehr interessant ist, dass es überhaupt keinen Konsens gibt. Es gibt einen Minimalkonsens bezüglich gewisser Kriterien, also insbesondere das Dringlichkeitskriterium ist fast unumstritten. Die Dringlichkeit bezeichnet insbesondere die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Patient oder eine Patientin stirbt, wenn sie nicht behandelt wird. Das ist die Dringlichkeit, und das ist eigentlich ziemlich unumstritten. Wenn wir dann aber weitere Kriterien in Anschlag bringen, die vielleicht auch intuitiv plausibel sind, dann beginnen sie die Dissense sofort. Also nächstes auch sehr medizinisch anmutendes Kriterium ist die kurzfristige Erfolgsprognose, also die Heilungschancen. Die Chance, dass man, wenn man behandelt wird, dieses Schadensereignis, wenn man so will, übersteht. nd hier beginnen die Kontroversen dann schon. Also da hat man insbesondere auch im deutschen Straf- und Verfassungsrecht viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die auch dieses Kriterium ablehnen. In der Ethik, der Medizinethik, wird das zumeist gut geheißen. Es gibt aber durchaus auch kritische Stimmen in der Medizin, also unter Ärzten zum Beispiel bei der Deutschen intensivmedizinischen Vereinigung, wird dieses Kriterium auch gut geheißen. Aber eben da beginnen die Kriterien schon, wenn man es dann weiter zieht und die Diskussion ausdehnt auf Kriterien, die vielleicht auch gewisse intuitive Plausibilität beanspruchen können. Zum Beispiel Kriterien wie das Alter. Da muss man differenzieren. Eigentlich ist es ein doppeltes Kriterium: Man kann fragen: Wie viele statistisch erwartete Lebensjahre stehen für jemanden denn noch auf dem Spiel? Man kann aber auch fragen, und das wäre sozusagen das Alter, streng genommen strikter: Wie viele Jahre sind bereits verstrichen? Das ist dieses doppelte Kriterium und weitere Kriterien mehr. Systemrelevanz. Vom sozialen Wert etwas allgemeiner vielleicht gesprochen war teilweise auch die Rede. Aber all diese Kriterien sind hoch umstritten.

Sarah: Also wir besprechen ja im öffentlichen Diskurs eigentlich seit Beginn der Pandemie immer wieder, wie auch hierzulande Triageentscheidungen getroffen werden. In diesem Winter 2021 häufen sich die Zeitungsartikel zu dem Thema, weil die Tausenderinzidenzen in manchen Regionen eben wirklich ganz aktuell und real die Gefahr erhöhen, dass in diesem engeren Sinne triagiert werden muss. Also dass Menschen sterben könnten, weil es zum Beispiel - du hast einige Sachen angesprochen - es nicht zum genug Beatmungsgeräte gibt, weil das Personal knapp wird. Wie nimmst du denn mit deinem Hintergrund die aktuelle Situation und Debatte rund um das Thema wahr?

Adriano: Allgemein kann man sagen, dass es schon erstaunlich ist, wie lernresistent wir zu sein scheinen als Gesellschaft und insbesondere auch die politischen EntscheidungsträgerInnen. Ich meine, wir hatten aus der Wissenschaft fast einhellige Warnungen, dass wir vermutlich wieder auf eine große Welle zusteuern, obwohl wir nun über die Impfung verfügen und so weiter. Da wurde wiederum sozusagen einfach viel zu optimistisch verfahren, glaube ich. Man hätte dann Vorsichtsprinzip ganz sicher walten lassen sollen und sich vorbereiten sollen. Und dazu gehört eben auch eine Vorbereitung im Geiste. Ich spreche oft über das Denken auf Vorrat im Vergleich zum Philosophieren in Echtzeit. Jetzt sind wir wieder gezwungen, in Echtzeit zu philosophieren, weil wir ja auch intellektuell als Gesellschaft nicht wirklich vorbereitet waren und sind auf die Frage: Wie sollen wir dann in Extremis triagieren? Es gibt kein Triagegesetz zum Beispiel. Also wir sind doch intellektuell tatsächlich weder praktisch noch noch im Geiste adäquat vorbereitet.

Sarah: Dazu vielleicht direkt: Kannst du vielleicht einmal kurz erläutern, wie die Situation rechtlich gesehen ist, was Triageentscheidungen angeht? Also was darf Pflegepersonal, was dürfen Ärztinnen, wenn es um das Thema geht?

Adriano: Ja, was auf viel Konsens stößt in den Rechtswissenschaften, ist die Ansicht, dass im Fall der sogenannten Ex Ante Triage - also man unterscheidet die Ex ante von der Ex post Triage. Das bedeutet das folgende: Ex ante wäre man als Arzt oder Ärztin konfrontiert mit zwei oder mehr Patienten, Patientinnen, die Anspruch erheben auf letzte Betten. Man muss dann auswählen, muss also entscheiden, wem man hilft. Die Situation ex post besteht darin, dass alle Intensivbetten oder Beatmungsplätze schon belegt sind und dann trotzdem noch weitere Patientinnen Patienten rein strömen. Und hier müsste man also, um neue Patientinnen und Patienten berücksichtigen zu können, jemanden vom Beatmungsgerät trennen, aktiv trennen, der oder die schon am Beatmungsgerät hängt. Und das ist natürlich viel kontroverser. Jetzt zur ex ante Triage: hier herrscht die Ansicht vor rechtlich, dass es sich um eine sogenannte rechtfertigende Pflichtenkollision handeln würde. Man hat halt als Arzt oder Ärztin zwei Behandlungspflichten. Also angenommen, man hat ein letztes Bett und zwei Patienten, die Anspruch darauf erheben, Patienten A und B, dann hat man zwei Behandlungspflichten, die grundsätzlich strikter Art sind: die Pflicht A zu behandeln und die Pflicht B zu behandeln. Und das ist eine Pflichtenkollision; deswegen, weil man nicht beides tun kann. Hier gilt dann das Prinzip ultra posse nemo obligatur, wie man sagt. Also über das Können hinaus ist niemand verpflichtet. Man kann hier halt nicht beides tun, man kann nicht beiden Pflichten nachkommen. Deswegen kann man auch nicht verpflichtet sein, beides zu tun. Man ist aber verpflichtet, mindestens ein Leben in dieser Konfliktsituation zu retten und ist entsprechend rechtlich dann auch gerechtfertigt in der Wahl, die man trifft. Und nach der vorherrschenden rechtswissenschaftlichen Meinung ist man als Arzt oder Ärztin im Prinzip rechtlich gesehen komplett frei. Und das ist auch problematisch. Da gibt es natürlich auch kritische Stimmen, denn im Grunde scheint es rechtlich eben die aktuelle Rechtslage okay, auch aufgrund zum Beispiel der Haarfarbe oder willkürliche Kriterien allgemein zu triagieren. Also man muss einfach - das ist die eine Pflicht in dieser Konfliktsituation. Man muss eines der beiden Leben retten. Mehr kann man nicht tun. Und im Grunde ist man als Arzt, Ärztin völlig frei. Ethisch ist das natürlich nicht plausibel, willkürliche Kriterien dieser Art anzuwenden. Und es gibt auch Stimmen, die sagen, eigentlich sollte man einen neuen Straftatbestand einführen für Leute, die willkürliche, diskriminierende Kriterien hier anwenden. Klarerweise sind Ärztinnen und Ärzte und ihre Berufsverbände hier aufgerufen, ethisch sorgfältig zu deliberieren und entsprechende Richtlinien auch herauszugeben. Und das geschieht ja auch: Ich hab die Divi erwähnt, die Deutsche intensivmedizinische Vereinigung. Die hat sich zum Beispiel mit Triagerichtlinien dazu geäußert und nimmt dann natürlich auch Inputs aus dem öffentlichen gesellschaftlich politischen Diskurs auf und kommuniziert diese Richtlinien dann auch nach außen hin. Aber im Prinzip, im Prinzip sind Ärztinnen und Ärzte frei in dieser Situation der rechtfertigenden Pflichtenkollision, bei der Ex Ante Triage, sozusagen ihr Gewissen und ihre Vernunft zu befragen und dann entsprechende Kriterien anzuwenden. Und da gibt es eine ganze Reihe an Kriterien, die moralisch vielleicht plausibel sind, die sich argumentieren lassen, also am unkontroversesten eben die Dringlichkeit. Auch kaum kontrovers ist die kurzfristige Erfolgsprognose. Dann sehr kontrovers sind Alterskriterien: verbleibende Lebensjahre, verstrichene Lebensjahre und noch viel kontroverser ist der soziale Wert oder die Systemrelevanz und jetzt neu auch sozusagen die Verursacher oder moralische Schuldfrage, wenn man so will. Wenn man sich halt nicht impfen lässt, dann nimmt man in Kauf, dass - zumindest wenn man die Faktenlage so sieht, wie ich sie zum Beispiel sehen würde, ja aus dem wissenschaftlichen Konsens folgend - ja, dann nimmt man halt in Kauf, dass man durch eine Infektion dann auch schwer erkrankt und auf der Intensivstation landet und dort die lebensrettenden Ressourcen verknappt und damit dann auch das Leben anderer bedroht. Also andere, die sich vielleicht haben impfen lassen, eigentlich in eine Triagesituation hinein zwingt. Und dann ja, das ist dann auch eine hitzig geführte Debatte und da muss man aufpassen und die Ebenen wirklich auseinanderhalten. Ich glaube auch, dass es nicht adäquat wäre, das rechtlich so zu normieren, dass in dieser Konfliktsituation Ungeimpfte versus Geimpfte, dass da dann eine rechtliche Norm bestünde, dass der Geimpfte zu priorisieren wäre. Ich glaube, das wäre im liberalen Rechtsstaat sehr problematisch. Es ist auch nicht Sache der Ärztinnen und Ärzte, rechtliche Sanktionen umzusetzen und so weiter. Und grundsätzlich ist es ethisch absolut adäquat, dass ein Gleichbehandlungsgrundsatz gilt. Wir fragen nicht nach Verursachung, nach Schuld und so weiter. Oft wird dann auch direkt argumentiert: Na ja, wo führt das hin? Also Raucherinnen und Raucher oder Leute, die Extremsportarten betreiben und so weiter haben auch ein höheres Risiko, auf der Intensivstation zu landen. Aber klarerweise wäre es inadäquat,  nach einem entsprechenden Status als Raucher oder Extremsportler dort zu fragen. Hier würde ich aber moralphilosophisch entgegnen. Zunächst würde ich zugestehen, dass rechtlich keine Normen. Ich meine, das wäre jetzt kurzfristig auch nicht möglich - zu den möglichen Normen eines Triageesetzes, aber ich finde das grundsätzlich eigentlich adäquat, dass man hier rechtlich die Situation einer rechtfertigenden Pflichtenkollision vorliegen hat, die auch im liberalen Rechtsstaat, dem ärztlichen Gewissen und auch der moralischen Vernunft und Deliberation dort Raum lässt. Aber eben das bedeutet, dass Ärztinnen und Ärzte frei sind, ihrem Gewissen und ihrer moralischen Vernunft zu folgen. Und hier glaube ich schon, dass es je nachdem vernünftig sein kann, den Impfstatus auch zu berücksichtigen. Da kann man zum Beispiel per Analogie so argumentieren, also man kann sich analoge Fälle vorstellen. Also stellen wir uns vor, wir haben  zwei Wandergruppen A und B, die in einer Dürreperiode durch einen Wald wandern. Und es gibt die klare, offizielle, vielleicht auch staatliche Empfehlung, wenn auch keine Pflicht. Aber die klare Empfehlung zum Beispiel nicht zu rauchen und nicht zu grillen in dem Wald. Denn es besteht halt Brandgefahr, Flächenbrandgefahr. Und sagen wir nun, die Gruppe A halte sich an die Regel, Gruppe B nicht. In der Gruppe B wird geraucht und prompt kommt es zu einem Flächenbrand. Dann kommt der rettende Hubschrauber, der aber nur eine der Gruppen aus dem Feuer ziehen kann. Jetzt kann man sich vorstellen, dass man dort als Pilot oder Pilotin agiert. Und dann wäre man wiederum rechtlich in einer rechtfertigenden Pflichtenkollision und hätte sozusagen rechtlich die Freiheit, dem eigenen Gewissen und der eigenen moralischen Vernunft zu folgen. Wer könnte das jetzt wirklich mit dem eigenen Gewissen vereinbaren, diejenige Gruppe zu retten, die den Waldbrand fahrlässig verursacht hat? Also mir scheint, dass das höchst ungerecht wäre und dass es moralisch sehr adäquat ist, hier ein Verursacherprinzip auch walten zu lassen. Und es geht überhaupt nicht darum, die vielleicht schuldige Gruppe zu sanktionieren. Das ist dann Sache des Rechtsstaates. Das kann ja auch sein, dass die Gruppe, die den Brand verursacht hat, nicht gerettet wird durch einen Zufall, sich dann aber trotzdem noch retten kann. Ja, und dann ist es wieder eine Frage des Rechtsstaats, ob es eine Strafe. Also ich habe jetzt schon unterstellt in dem Fall, dass es nur eine Empfehlung gab und dann hätte das auch rechtlich keine weiteren Konsequenzen. Aber vielleicht sollte man sich auch vorstellen, dass es Gesetze gab, die das untersagten. Und dann erst kämen diese Mechanismen in Gang, die vielleicht zu einer Bestrafung führen. Und hier ist es zunächst einfach, glaube ich, ein moralisches Prinzip einer gerechten Lastenverteilung. Es scheint moralisch höchst ungerecht. Also wenn dann diejenige Gruppe, die sich moralisch einwandfrei verhalten hat, ja sterben muss und die andere gerettet wird. Also hier werden sozusagen diese Lasten dann externalisiert und müssten von Leuten getragen werden, die sich einwandfrei verhalten haben. Das scheint moralisch einfach hochgradig ungerecht. Insofern  wäre ich geneigt zu argumentieren, dass dieses Verursacherprinzip moralisch gerechtfertigt werden kann und dass Ärztinnen und Ärzte eben auch die Freiheit haben, rechtlich gesehen diese moralischen Kriterien anzuwenden.

Sarah: Du hast gerade schon ganz, ganz viele Kriterien angesprochen, die man in Betracht ziehen kann. Also wir sprechen hier ja über so ein moralisches Szenario mit der Gruppe in dem Wald, wo alle anderen Sachen gleich sind und nur diese eine Sache anders ist, wenn ich dich richtig verstanden habe. Also die haben irgendwie alle das gleiche Alter, haben alle die gleiche Systemrelevanz und alle anderen Kriterien ebenfalls. Jetzt würde mich interessieren. Wie du bei diesen anderen Kriterien mit dem Argument umgehst, dass es dann zu so einem Slippery Slope führen könnte. Ich kann nicht so richtig einen Finger drauf legen, aber irgendwie fühlt sich das für mich moralisch gesehen total ungut an. Auch bei sowas wie der Erfolgsprognose. Die kann ja dazu führen, dass Personengruppen halt vorhersehbar benachteiligt werden. Also wenn jetzt zum Beispiel jemand eine Behinderung hat, die dazu führt, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit niedriger ist als bei der nichtbehinderten Person. Wie lässt sich denn sowas vorbeugen?

Adriano: Ja, genau, das sind sehr gute, legitime Punkte. Hier argumentiere ich wie folgt: Mir scheint, dass auch das unumstrittenste Kriterium - wie gesagt, mir ist eigentlich niemand bekannt, der das Kriterium der Dringlichkeit ablehnen würde, der medizinischen Dringlichkeit, dass auch dieses Kriterium dazu führt, dass manche Personengruppen vorhersehbar benachteiligt werden. Und in diesem Fall sind das insbesondere junge Menschen und gesunde nicht vorerkrankte Menschen. Denn es ist halt so, dass, wenn eine Katastrophe zuschlägt, dass dann in der Tendenz jene Menschen eine höhere medizinische Dringlichkeit haben, die zum Beispiel an Vorerkrankungen leiden, die eine Behinderung haben oder die älter sind. Also die werden eigentlich bevorteilt vom Dringlichkeitskriterium. Das ist ein Punkt, der kaum mehr gesehen wird, aber das scheint mir schlicht zuzutreffen. Und das heißt, Leute, die das Kriterium der Erfolgsprognose ablehnen wollen aus diesem Grunde, die müssen eigentlich aus dem selben Grund auch das Dringlichkeitskriterium schon ablehnen. Das tun sie aber nie. Und das scheint mir inkohärent. Und das scheint mir auch eben keine Diskriminierung zu sein, wenn ein Kriterium tatsächlich gerechtigkeitstheoretisch als Sachgrund relevant ist, wie die Dringlichkeit oder eben auch die Erfolgsprognose. Das sind keine willkürlichen Kriterien, sondern ich glaube, das sind plausiblerweise relevante Sachgründe der Gerechtigkeit. Und deswegen würde ich hier auch nicht von Diskriminierung sprechen. Also indirekt führt das dazu, dass Dringlichkeitskriterium führt indirekt dazu, dass junge, gesunde Menschen im statistischen Schnitt einen Nachteil haben werden. Und das Kriterium der Erfolgsprognose, du hast es gesagt, führt indirekt dazu, dass Menschen mit Vorerkrankungen, Behinderungen oder ältere Menschen einen Nachteil haben. Aber das scheint mir per se nicht ungerecht. Das ist einfach eine Implikation dieser Kriterien, die sich gerechtigkeitstheoretisch begründen lassen. Es trifft tatsächlich zu, dass Erfolgsprognose-Kriterien schon dazu tendieren, Menschen mit Vorerkrankungen oder Behinderungen auch in ungerechter Weise zu benachteiligen. Das lässt sich aber ausgleichen, indem man auch einen Gerechtigkeitsvorrang für die schlechter Gestellten bemüht. Das wären dann zum Beispiel junge, vorerkrankte und behinderte Personen. Die kriegen dann sozusagen in diesem Triageverfahren einen Bonus an Priorisierungspunkten. Oft wird hier dann auch gleich zu bedenken gegeben, was möglichen Priorisierungalgorithmus angeht, dass man das doch in keiner Weise quantifizieren kann. Wir haben schon ein Punktesystem auch bei der Organvergabe. Also das ist auch eine permanente Triagesituation und dort gab es auch eine gesellschaftliche Debatte und dann ein entsprechendes Gesetz. Also es ist schon möglich. Natürlich gibt es im klinischen Alltag auch immer Unsicherheiten, aber man kann nach bestem Wissen und Gewissen die statistisch verfügbaren Daten konsultieren und dann entsprechend auch begründete Entscheidungen fällen. Es ist durchaus möglich, hier Priorisierungspunkte zu verteilen und dann zum Beispiel auch einen Gerechtigkeitsvorrag der schlechter Gestellten anzubringen, der ja von vielen Moraltheorien und von Theorien der politischen Gerechtigkeit tatsächlich vertreten ist. Man kann sich dann auch Fälle überlegen wie den folgenden: Also angenommen, wir haben eine 80-jährige Person, der noch zehn Jahre bleiben und eine 40-Jährige, der aufgrund einer schweren Vorerkrankungen auch nur zehn Jahre bleiben. Ein Kriterium, das die verbleibenden Lebensjahre berücksichtigt, würde hier keinen Unterschied machen. Aber klarerweise gibt es einen relevanten Unterschied zwischen den Fällen, der gerechtigkeitstheoretisch relevant ist. Die ältere Person, die 80-Jährige, die wurde an Lebensjahren sozusagen schon reich beschenkt. Also sie ist reich an Lebensjahren, wohingegen die vierzigjährige Person, der auch nur noch zehn Jahre bleiben, die ist vergleichsweise arm an Lebensjahren und die Lebensjahre sind eines der wichtigsten Güter überhaupt. Und deswegen stellt sich auch hier natürlich die Frage nach einer gerechten Verteilung. Und da ist das ein Kriterium, ein Vorrang der vergleichsweise schlechter Gestellten relevant. Denn wenn die junge Person stirbt, dann stirbt sie eben mit ihren 40 Jahren. Wenn die alte Person stirbt, dann stirbt sie mit achtzig. Und wenn man in diesem Konfliktfall die ältere Person rettet, dann verteilt man das vielleicht vitalste der Güter sozusagen um von den Armen zu den Reichen bzw. man macht die Reichen an Lebensjahren noch reicher, während die Armen arm bleiben. Und das scheint hochgradig ungerecht. Ja, das ist eines der Argumente, die man hier ins Feld führen kann.

Sarah: Wir haben jetzt noch gar nicht bzw. noch gar nicht explizit über das erste Gebot der Triage gesprochen, was ja eigentlich total wichtig ist, nämlich alles zu tun, um überhaupt nicht erst triagieren zu müssen. Da habe ich mich gefragt, wie du das Thema Impfpflicht in dem Kontext siehst. Es wird ja gerade konkret darüber gesprochen, eine Impfpflicht einzuführen. Die könnte natürlich nicht sofort in Kraft treten. Aber nehmen wir mal an, es gäbe eine Impfpflicht ab morgen. Die würde in den nächsten Wochen irgendwann auf der Intensivstation Wirkung zeigen. Wie siehst du das unter diesem ersten Gebot der Triage alles zu tun, um Triage zu verhindern? Also könnte Impfpflicht theoretisch darunter fallen?

Adriano: Ja, also wenn in Extremis als Ultima Ratio keine andere, keine mildere Maßnahme übrig bleibt. Dann könnte eine Impfpflicht, wenn sie rechtzeitig kommt. Da gibt es natürlich die angesprochene zeitliche Verzögerung bis zur Wirkung. Dann könnte das schon ein legitimes Mittel sein, scheint mir. Aber ich glaube, es ist schon ein schwerwiegender Eingriff in die Grundrechte derjenigen, die sich nicht impfen lassen wollen, selbst wenn deren Gründe irrational sind. Ich habe sehr stark plädiert, auch im öffentlichen Diskurs dafür, dass der Staat zunächst wirklich alle milderen Mittel hätte ausschöpfen sollen.Ich habe immer gesagt, dass natürlich insbesondere auch die Politik versagt hat. Jetzt erneut in und vor dieser Welle. Also wir sind komplett unvorbereitet und es hätte eine ganze Reihe an Maßnahmen gegeben, die man längst auch im Sinne dieses ersten Triage-Gebots, wie ich es im Buch formuliere: vermeide es nach Kräften triagieren zu müssen. Und da sollte man in einem liberalen Rechtsstaat natürlich zunächst alle milden Mittel bemühen. Und wenn die dann nicht genügen, dann kann man sich über schärfere Mittel Gedanken machen. Aber wenn man hier sozusagen sich an einer Auslegeordnung versucht, was gäbe es denn an Steuerungsmaßnahmen, die ein liberaler Rechtsstaat ergreifen könnte? Dann könnte man mit Impfnudges beginnen, Nudges sind sozusagen einen Schubser, der geeignet ist, verhaltensökonomisch unser Verhalten zu steuern, ohne aber unsere Freiheit wirklich zu beschränken. Und man hätte zum Beispiel allen Einwohnern ihre Termine einfach direkt nach Hause schicken können, mit der Option, diesen Termin auch durch ein simples Telefonat oder E-Mail wieder abzusagen. Hat man versäumt, hat man nicht gemacht. Weiter hätte man mit Impfprämien arbeiten können, mit positiven Impfanreizen. Finanziell das ein total Klacks gewesen für die Bundesrepublik. Also man hätte locker 500 Euro bieten können für eine Impfung und dann mal evaluieren können, zu welchem Effekt das führt, das wurde nicht getan. Weiter gäbe es die Möglichkeit einer Impfsteuer, die sozusagen als Impfoffsetting auch wirken könnte. Das wäre auch milder als die Impfpflicht. Also die Impfpflicht wäre also bei Zuwiderhandlung eine Ordnungswidrigkeit, die zu einer Buße führen würde. Jetzt kann man sagen: Gut, das ist keine Strafverfolgung. Das ist noch nicht das schärfste Schwert des Rechtsstaats. Aber bei wiederholtem Zuwiderhandeln führen Ordnungswidrigkeiten natürlich auch zu einer Strafverfolgung. Also hier ist der Übergang dann ein gradueller. Also eine Impfpflicht ist schon eine härtere Geschichte. Ein Impfsteuer könnte man sozusagen auch wiederholt bezahlen im Sinne eines Offsettings jedes Jahr. Das ist sehr gut möglich, dass wir uns jedes Jahr, vielleicht auch halbjährlich sogar werden boostern müssen. Und das Ifo, das Münchener Forschungsinstitut für makroökonomische Fragen insbesondere, hat geschätzt, dass eine nicht geimpfte Person soziale Externalitäten im Umfang von etwa 1500 Euro verursacht, wenn man das vergleichbar zu machen versucht, monetär zu beziffern. Jetzt könnte man sagen: Gut, wenn ein Ungeimpfter wirklich subjektiv glaubt, über gute Gründe zu verfügen. Die mögen irrational sein und nicht wirklich durch die verfügbare Evidenz begründet. Aber das ist vielleicht die subjektive Lage aus der Sicht eines Ungeimpften. Dann kann sich diese Person entscheiden, das zu kompensieren. Halt mit einer jährlichen Impfsteuer in dieser Höhe 1500 Euro, wenn das gesellschaftlich ein gangbarer Weg ist. Aber all diese Dinge wurden im Diskurs nicht mal, nicht mal wirklich verhandelt. Und ich glaube, das ist schon auch ein schweres Verschulden der Politik in einem liberalen Rechtsstaat. Denn es ist die Pflicht eines jeden, der politisch Einfluss hat darauf, wie das am Ende geregelt wird, halt all diese milderen Maßnahmen ins Spiel zu bringen, zu diskutieren und auch auszuschöpfen, bevor man zur härteren Maßnahme einer Impfpflicht greift und dann einer entsprechenden Sanktion. Ich will vielleicht noch mal ganz kurz klarstellen, dass ich eine mögliche Depriorisierung von Ungeimpften überhaupt nicht als Bestrafung sehe. Also ich glaube das ist ein Fehlargument, wenn man so darauf reagiert. Es ist auch nicht mal als Anreiz gedacht. Im Übrigen glaube ich, dass das Anreiz gar nicht gut wirken wird auf Ungeimpfte, von denen viele ja...

Sarah: Du meinst jetzt, sie in Krankenhäusern im Falle einer Triage zu depriorisieren?

Adriano: Das könnte man ja auch, weil ich jetzt von Anreizen gesprochen habe. Also eine positive Prämie, ein positiver Anreiz. Eine Impfpflicht wäre natürlich ein negativer Anreiz. Das kann im Wiederholungsfall zu einer Strafverfolgung führen. Und eine Depriorisierung von - also nur um aufzuzeigen, wie das zusammengeht: Ich habe jetzt gesagt, mit einer Impfpflicht wäre ich vorsichtig. Das ist ein durchaus scharfes Schwert. Und da könnte man mir vorwerfen, das sei irgendwie inkohärent, weil ich gerade die Depriorisierung auch verteidigt hab im Fall des Falles. Diese Depriorisierung könnte man interpretieren, auch als Anreiz, als Negativanreiz oder als Strafe. Aber ich glaube eben ist es weder noch. Und es würde im Übrigen glaube ich auch als Anreiz gar nicht so gut wirken, weil es bleibt unwahrscheinlich, dass man sich in dieser Situation wiederfindet. Und viele Ungeimpfte glauben ja auch gar nicht so recht an die Gefährlichkeit der Sache. Das heißt, sie würden sich dadurch nicht abschrecken lassen. Und ich glaube, es ist tatsächlich mehr ein moralisches Gerechtigkeits-, vielleicht auch Solidaritätsgebot, dass man sich als Arzt oder Ärztin moralisch solidarischer zeigen darf mit denjenigen, die sich haben impfen lassen und die diese Notlage in keiner Weise verursacht haben. Das ist natürlich auch kompatibel damit, dass ich selbstredend nicht nur moralisch den Ungeimpften die Schuld zuweisen würde. Die Politik hat insbesondere auch das ein schweres Verschulden, dass da nicht hinreichend reguliert wurde. Und jetzt eben diese drohende Triage wirklich zu vermeiden, das wäre möglich gewesen. Aber ich glaube, es bleibt dabei, dass das eine hochgradig ungerechte Lastenverteilung wäre, wenn Geimpfte depriorisiert würden, sodas Ungeimpfte überleben. Also ich als Arzt. Die Idee wäre nicht, dass das ein Anreiz wäre. Noch wäre die Idee, dass das eine Bestrafung ist, sondern als Arzt wäre man frei, rechtlich einfach plausible moralische Kriterien anzuwenden. Ich glaube, es gibt ein Kriterium der gerechten Lastenverteilung und vielleicht einer privilegierten Solidarität mit den Geimpften. Das scheint mir sehr, sehr legitim. Aber zurück zur Impfpflicht. Also ich glaube, eben schon, wenn man jetzt Impfgegner befragt, dann führen die halt ihre Gründe an dafür, warum sie das ablehnen. Und die mögen irrational sein und mögen nicht kompatibel sein mit der wissenschaftlichen Evidenz. Nichtsdestotrotz sind das ihre Gründe. Objektiv gesehen kann man sagen: Na ja, also es ist ein kleiner Eingriff und das ist nicht mal, sozusagen im Erwartungswert, das ist nicht mal ein Schaden für die geimpfte Person, sondern - das suggeriert die Evidenz -, ist sogar Nutzen und es nützt natürlich auch der Gesellschaft. Aber in der subjektiven Evaluation mancher Leute ist das überhaupt nicht so. Also die fühlen sich sehr, sehr stark geschädigt dadurch, also durch eine Impfung. Und deswegen ist das schon ein massiver Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit nach ihrem subjektiven Verständnis, wenn man hier jetzt eine Impfpflicht statuiert. Und deswegen sehe ich das schon schon auch kritisch. Man muss sich hier dann glaube ich, im Rahmen einer liberalen Demokratie die folgende Frage stellen: also die Demokratie kann, glaube ich, plausibel interpretiert werden als System der fairen Kooperation. Man muss sich demnach also fragen, ob man eine Impfpflicht oder Äquivalente einer Impfpflicht auch akzeptieren könnte, wenn die Rollen vertauscht worden wären. Man kann sich vorstellen, dass man selbst vielleicht dereinst zu einer 10 oder 20 Prozent Minderheit, zu einer gesellschaftlichen Minderheit gehören wird, die sich vielleicht nicht impfen lassen will. Und vielleicht geht es dann um etwas anderes. Vielleicht geht es um etwas anderes. Die Mehrheit der gesellschaftlichen Mehrheit glaubt, dass man sich irgendwie gefährlich verhält und dass man das verhindern könnte durch einen Eingriff in den eigenen Körper. Und die Mehrheit hält das für unproblematisch. Ich selbst würde das aber nach bestem Wissen und Gewissen auch für hochgradig problematisch halten. Für eine Schädigung vielleicht. Und deswegen will ich das schlicht nicht. Und hier muss man sich dann fragen: Könnte man es akzeptieren, wenn die Rollen vertauscht wären, sich dann der Mehrheit zu fügen. Und wenn man das guten Gewissens und redlich bejahen kann, dann glaube ich, ist es kompatibel, im Rahmen einer eines liberaldemokratischen Rechtsstaats für eine Impfpflicht einzustehen.

Sarah: Von dem Bereich der Triage hast du in deinem Buch am Ende ja noch einen Bogen hin zu Makrotriage geschlagen. Den Bogen würde ich auch gerne schlagen. Kannst du erst mal kurz erläutern, was du mit Makrotriage meinst?

Adriano: Also das, was gemeinhin Triage genannt wird, das bezeichne ich auch als Mikrotriage, also wirklich die, die Triage im engeren Sinne, wie sie zum Beispiel auf der Intensivstation erfolgt, bei wirklich harter Ressourcenknappheit. Wer kriegt das letzte Beatmungsgerät? Ähnliche Fragen der Lastenverteilung stellen sich aber auf der gesellschaftlichen Makroebene. Wenn man zum Beispiel die Frage stellt: Gut, wenn es in extremis nicht mehr ohne Lockdown geht, dann stellt sich die Frage sicher, wer welche Lockdownbürden zu tragen hat, welche Gruppen. Und das ist eigentlich auch eine Form der Triage. Man muss auch hier wiederum auswählen, wer doch ganz erhebliche Bürden zu tragen hat und wer vielleicht besser davonkommt. Und das hätte ich eben noch erwähnen können: also Du hast ganz recht, ja, also in Extremis könnte eine Impfpflicht ein geeignetes Mittel sein, eine Mikrotriage zu verhindern. Aber es ist ein problematisches Mittel, weil die Impfpflicht selbst natürlich auch eine Form der Makrotriage ist. Also mit der Impfpflicht wählen wir aus, wer eine Bürde zu tragen hat, die nach der subjektiven Evaluation der Betroffenen auch wirklich eine schwere Bürde sein kann. Ich glaube, das könnte legitim sein. Das kann man ethisch gerechtigkeitstheoretisch durchaus begründen. Aber ja, es ist natürlich hochgradig problematisch aus den schon ausgeführten Gründen. Eine Impfpflicht ist eine Form der Makrotriage. Und ja, dann kann man sich überlegen, in welchen Kontexten wir eigentlich makrotriagieren. Das sind tatsächlich sehr viele, ich erwähne auch das Beispiel der Entwicklungszusammenarbeit zum Beispiel. Auch dort haben wir es mit der Frage zu tun: Wie verteilen wir knappe, lebensrettende Ressourcen auf eine globale Population? Wie wählen wir diejenigen aus, die davon profitieren? Und das bedeutet natürlich auch, dass wir jene auch auswählen und bestimmen, die davon dann eben nicht profitieren und vielleicht dann auch sterben im schlimmsten Falle.

Sarah: Und welche Antwortmöglichkeiten gibt es da? Also wie lässt sich dieses Konzept von Makrotriage, also was ja, wie du gerade gesagt hast, bedeutet, man hat in ganz vielen verschiedenen Kontexten eine begrenzte Anzahl von Ressourcen, die man irgendwie verteilen muss. Und wie lässt sich das auf die internationale Ebene übertragen? Also so Entscheidungen von Staatengemeinschaft wie der EU oder auch Einzelstaaten eben. Zum Beispiel bei der Frage, wie viel Geld für die eigenen Bürgerinnen, wie viel für die Unterstützung anderer Länder ausgegeben werden sollte. Also weil ja dann so Sachen reinspielen wie das Geld, je nachdem wie man es einsetzt, auf staatlicher und auch auf persönlicher Ebene, ja ganz oft besser woanders gebraucht werden kann und dort auch einen ganz anderen Wert hat, als es an anderen Orten hat, weil es zum Beispiel in anderen Ländern eine sehr viel stärkere Verbesserung von Lebensumständen bewirken kann.

Adriano: Ja genau. Ich meine, auch auf persönlicher und alltäglicher Ebene - ich glaube, das muss man sich auch vergegenwärtigen - triagieren wir zumindest implizit, nolens volens die ganze Zeit. Wann immer wir uns selbst materielle Ressourcen zuteilen und zum Beispiel Luxusgüter erwerben, entspricht das auch in gewisser Weise einer Form der Makrotriage, weil das sind dann immer Ressourcen, die wir zum Beispiel nicht den global Ärmsten zuteilen. Und noch immer leben Hunderte Millionen Menschen unterhalb der absoluten Armutsgrenze, die gesundheits- und entwicklungsökonomisch meist so bestimmt wird, dass die Menschen mit weniger als zwei Dollar pro Tag pro Kopf leben. Und das ist Kaufkraft bereinigt. Und ja, das führt zu permanenter Unterernährung. Das führt dazu, dass man sich absolut gar keine medizinische Behandlung leisten kann, dass man keine sanitären Anlagen hat und so weiter und so fort. Also das ist auch eine Form der Makrotriage, wann immer wir uns selbst Ressourcen zuteilen, die wir auch weggeben könnten. Und ja, was die Kriterien betrifft: Ich glaube, da kann man durchaus enge Analogien ziehen zwischen den Kriterien, für die ich im Falle der Mikrotriage argumentieren würde und den Kriterien, die dann vielleicht auch für die Makrotriage plausibel sind. Man kann fragen, wo ist die Dringlichkeit am höchsten? Dann: wo ist die Erfolgsprognose am besten? Also wo ist vielleicht die Lösbarkeit eines eines Problems auch am höchsten? Man kann dann auch fragen: Wer sind eigentlich die schlechtest Gestellten vielleicht? Und man kann sich ganz grundsätzlich fragen, welche Formen der Abwägung oder auch der Aufrechnung denn legitim sind und welche vielleicht nicht. Also bei der Mikrotriage ist es rechtlich im liberalen Rechtsstaat, der darauf abzielt, zustimmungsfähige Lösungen zu finden für jeden einzelnen. Da ist es schon hochproblematisch, zum Beispiel die geretteten Leben einfach aufzurechnen. Unbeschränkt. Also man stelle sich zum Beispiel vor, im Falle der Vergabe knapper Organe kommen solche Fälle zum Beispiel vor. Also gibt zum Beispiel Patienten mit einem sogenannten Doppeltbedarf. Die benötigen ein Herz und eine Lunge zugleich, zwei sogenannte vitale Organe. Und auf der anderen Seite haben sie vielleicht einen Patienten, der benötigt ein Herz und einen zweiten, der benötigt eine Lunge. Und wenn die Verfügbarkeit jetzt die ist, dass wir ein Herz und eine Lunge zu verteilen haben, dann stellt sich die Frage: Ja, retten wir ein Leben oder zwei? Und haben dann einen wirklichen existenziellen Konflikt. Und wenn die Sache moralisch und auch rechtsphilosophisch dann so einfach wäre, dass man auch sagen kann: Ja, wir können aufrechnen ohne Weiteres, dann müssen wir sagen: Ja, wir müssen den Patienten mit Doppelbedarf von der Warteliste ausschließen. Weil wenn dieser Patient Zugang zur Warteliste hat, dann kann es sein, dass er dann die beiden Organe erhält und damit gerettet wird. Und das bedeutet aber, dass zwei andere Menschen sterben, und das schiene nicht zustimmungsfähig. Also für den einen Patienten schiene seine Rechte zu verletzen, insbesondere das Recht auf gleiche Teilhabe an den anderen medizinischen Ressourcen. Diese Konflikte haben es aber auch so an sich, dass die Anzahldifferenz meist nicht so groß ist. Also hier war jetzt die Differenz in der Anzahl Geretteter ein Leben. Und ich glaube, es wird dann schon plausibler, die Anzahl auch zählen zu lassen, wenn die Differenz zum Beispiel zehn oder gar hundert Leben beträgt. Wenn wir dann wieder ein Leben retten können oder 10 andere oder gar hundert andere, dann wird es auch, wird es moralphilosophisch immer plausibler, dass die Anzahl durchaus auch zählt. Und es gibt auch eine Art und Weise, in der die Anzahl zählt, die eigentlich völlig unstrittig ist. Die Anzahl zählt nämlich insbesondere dann, wenn wir es mit sogenannten Paretoverbesserungen zu tun haben. Eine Paretoverbesserung, das ist ein ökonomischer Begriff, bedeutet, dass eine Handlung mindestens ein Individuum besser stellt und kein Individuum schlechter. Also wenn wir uns vorstellen, dass wir entweder die Person A retten können oder die Personen A und B, ja, dann sollte die Anzahl natürlich ganz klar zählen. Also in diesem Fall sollten wir A und B retten, denn das ist vorteilhaft für B und nachteilig für absolut niemanden. Also hier hätten wir eigentlich gar keinen Konflikt vorliegen streng genommen. Aber dieser Fall ist eben nicht ohne Weiteres gleichzusetzen mit dem Fall, wo wir, sagen wir Person A retten können oder aber die Personen B und C. Also hier gibt es keine eindeutige paretoeffiziente Handlung. Denn wenn wir A retten, dann ist das nachteilig für B und C und wenn wir B und C retten, ist es nachteilig für A. Das heißt, das ist eine Differenzierung, die man machen kann. Und wenn wir den Blick jetzt sozusagen global erweitern, dann kann man zunächst feststellen, es ist quasi immer besser noch ein zusätzliches Leben zu retten, zusätzlich zu denjenigen, die irgendwie, die man ohnehin schon gerettet hat, gerettet hätte. Weil dann ist es auch eine Pareto-Verbesserung. Es könnte jetzt aber sein, dass sozusagen Fairness- oder Gerechtigkeitsüberlegungen einschlägig werden bei der Frage: Wenn wir jetzt zusätzliche Leben retten wollen, wen sollten wir dann retten? Vielleicht könnte es fair oder gerecht sein, das eigentlich per Losentscheid, per Zufallsverfahren zu bestimmen. Denn dann hätte jeder sozusagen eine gerechte Chance, dieses zusätzliche Leben zu sein. Also wenn man hier einfach ohne Weiteres aufrechnet oder aufrechnen würde, dann käme man zum Schluss, dass wir jetzt im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit die allermeisten Ressourcen, wenn nicht eigentlich alle Ressourcen, den allerärmsten Ländern bzw. Einwohnern dort zugutekommen sollten, weil dort kann man pro Geldeinheiten, vermutlich pro Ressourceneinheit am meisten bewirken. Und da kann man sich aber fragen: Na gut, wäre das denn gerechtigkeitstheoretisch ohne Weiteres zu vertreten, zu rechtfertigen gegenüber Personen der globalen Mittelklasse zum Beispiel, die vielleicht mit fünf sechs sieben acht neun zehn Dollar pro Kopf und Tag leben. Das ist auch nicht viel. Also die haben auch stark zu leiden und die tragen vielleicht auch ihre moralischen Ansprüche an uns heran, so dass man dann überlegen müsste, die knappen, zur Verfügung stehenden Ressourcen vielleicht auch noch in gerechter Weise aufzuteilen. Und etwas ganz Ähnliches schlage ich vor im Fall der Mikrotriage, also wenn man diese Kriterien in Anschlag bringt: Dringlichkeit, Erfolgsprognose, vielleicht auch verbleibende Lebensjahre, verstrichene Lebensjahre, Gerechtigkeitsvorrang für Menschen mit Vorerkrankungen oder Behinderungen, dann vielleicht hat man dann irgendwie einen Punktescore und eine Person hätte dann 70 von 100 Priorisierungpunkten und eine andere 60. Und da schien es dann unplausibel, einfach zu sagen  - oder man kann es auf die Spitze treiben. Die eine Person hat 71 Punkte, die andere 70. Da einfach zu sagen: Gut, du hast 70, also ziehst du einfach komplett den Kürzeren und kriegst gar keine Rettungschance. Eine Alternative ist hier ein gewichtetes Zufallsverfahren, dass man sagt, man verteilt sozusagen die Chancen fair, berücksichtigt aber gleichzeitig eben auch diese Priorisierungskriterien. Das führt dann zu einem gewichteten Zufallsverfahren. Das Zufallsverfahren ist nur deshalb notwendig, weil man die zu verteilenden Ressourcen hier quasi nicht direkt aufteilen kann. Also ein ein intensivmedizinisches Bett oder ein Beatmungsgerät kannst du nicht irgendwie entzwei schneiden oder so.. Das einzige was du hier gerecht aufteilen kannst sind die Wahrscheinlichkeiten darauf. Aber einen Geldbetrag in der Entwicklungszusammenarbeit, den kannst du aufteilen. Und deswegen könnte man dann auch sozusagen Priorisierungspunkte, wenn man so will bestimmen. Und die Ärmsten der Armen hätten dann wohl die höchste Priorisierungspunktzahl. Die globale Mittelklasse hätte aber auch eine durchaus ansehnliche Punktzahl und dann könnte man dann die knappen Ressourcen vielleicht proportional verteilen, also in der entsprechenden Proportion zur Anzahl der Priorisierungspunkte. Und so könnte man diese ja vielleicht eben unplausible extreme Konklusion vermeiden, dass die ganzen zur Verfügung stehenden Mittel einfach nur an eine Gruppe gehen. Vielleicht die Ärmsten der Armen, die es vielleicht schon an sich angesichts der höchsten Punktzahl, die da den größten Anspruch erheben können. Aber andere Menschen haben eben auch Ansprüche. Das wäre dann sozusagen eine Analogie zur Mikrotriage, wo ich mich eben auch dagegen ausspreche, manche Menschen einfach kategorisch zu depriorisieren. Es gibt einen Fall, wo ich wohl kategorisch depriorisieren würde, nämlich dann, wenn die Differenz an Priorisierungspunkten hinreichend ist. Also wenn jemand jetzt, sagen wir eine Punktzahl von 95 hat und eine andere Person eine Punktzahl von 5, dann wird es plausibel zu argumentieren, dass die Person mit der Punktzahl 5 eine Solidaritätspflicht untersteht der anderen Person gegenüber, so dass sie kategorisch depriorisiert werden kann. Das ist auch gängige Praxis bei qualitativen Gütern im medizinischen Alltag. Wenn eine Ärztin zum Beispiel dabei ist, meinen Finger zu verarzten und ich habe vielleicht schon eine ziemlich schwere Verletzung. Ich drohe meinen meinen Finger zu verlieren. Und dann kommt gleichzeitig ein nächster, oder etwas später ein nächster Patient rein. Das wäre dann sozusagen sogar eine Ex post Triage-Situation. Und dieser nächste Patient droht beide Arme zu verlieren. Ich glaube, dann ist es mir zumutbar, mir gegenüber gerechtfertigt, wenn die Ärztin meine Behandlung einstellt und ich vielleicht schlimmstenfalls einen Finger verliere, damit dieser andere Patient seine beiden Arme behalten kann. Also hier ist einfach die Differenz in den Stakes, in dem was auf dem Spiel steht, so groß, dass glaube ich eine eine kategorische Depriorisierung vertretbar ist. Das lässt sich dann übertragen, vielleicht auf die Lebenszeit, also auf quantitative Güter, wenn zum Beispiel, wenn ich noch ein halbes Jahr zu leben habe, ich bin vielleicht ein Greis und dann kommst du ex post vielleicht auch in die Notaufnahme und du hast noch 60 Jahre zu verlieren. Dann glaub ich, lässt sich schon argumentieren, dass bei dir viel mehr auf dem Spiel steht, dass es mir zumutbar ist und dass ich einer Solidaritätspflicht unterstehe, die dazu führt, dass ich depriorisiert werde.

Sarah: Bei diesem ersten Triage Gebot: das kann man ja auch sehr sehr gut auf den globalen Kontext bzw. auf Makrotriage anwenden. Also besteht nicht eine Pflicht, künftige Katastrophen mit deutlich mehr Mitteln als bislang zu vermeiden? Einfach um nicht in solche Triagesituationen zu kommen, die ja auch Mikrotriagesitutionen sein können. Das lässt sich ja auch auf zum Beispiel künftige Pandemien anwenden oder auch Hungersnöte, Kriege etc..

Adriano: Absolut. Ich glaube, es gibt ein krasses gesellschaftliches Underinvestment im Bereich der Katastrophenprävention. Man kann jetzt alle möglichen Katastrophen, die uns drohen, durchdeklinieren und ich glaube, das Pattern ist überall dasselbe. Es wird einfach radikal zu wenig investiert, egal wie man es dreht und wendet. Und man kann das auch rein sozusagen als egoistische oder gruppenegoistische prudentielle Kalkulation sehen oder auch als altruistische. Und in beiden Hinsichten, beiden Dimensionen investieren wir einfach viel zu wenig. Und da gibt es auch viele ökonomische Papers dazu, dass sich Katastrophenprävention oft extrem lohnen würde, dass Menschen aber auch immer - so eine kognitionspsychologische Frage auch, du hast dich ja auch intensiv zu diesen Fragen befasst aus dem Reich der Vorurteile und Biases, die unsere Überlegungen verzerren und vielleicht dazu führen, dass wir jetzt zum vierten Mal unvorbereitet in eine in eine Welle reinlaufen. Ein gutes Beispiel hier ist unser radikales Underinvestment im Bereich der Impfstoffproduktion. Also wir, ich meine jetzt meinen Co-Autor Nikil Mukerji und mich. Wir haben dieses Büchlein verfasst "Covid19. Was in der Krise zählt" im März 2020, wo wir uns dafür ausgesprochen haben, eigentlich sofort große Investitionen zu tätigen, im Zusammenspiel von Staat und Privatwirtschaft große Investitionen zu tätigen in Impfstofffabriken. Damals hatte man vielleicht so 10 Impfstoffkandidaten. Man wusste halt nicht, welcher Kandidat oder welche Kandidaten am Ende erfolgreich sein würden. Und ja, man hat das einfach radikal zu wenig investiert. Und ich meine, es liegt halt auch daran, dass zum Beispiel insbesondere biologische Expertise da abgegriffen wurde, und keine unternehmerische, also Drosten zum Beispiel hat die desolate Impfbeschaffungspolitik der Bundesregierung dann so verteidigt, dass er gesagt hat: Ex ante gleicht die Suche nach einem dann funktionierenden, sicheren, wirksamen Impfstoff, der Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Dazu haben wir geschrieben: naja, also wenn die Nadel halt Gold wert ist und das ist sie und der Heuhaufen hinreichend billig, dann kann das Prinzip lauten: Kaufe den ganzen Heuhaufen! Dass wir dann wirklich bei allen Impfstoffkandidaten einfach sofort in die Produktion investieren müssen. Also manche private Philanthropen haben das gemacht. Bill Gates zum Beispiel hat im April 2020 damit begonnen auch in Fabriken zu investieren. Und das erfordert halt auch mehr risikoökonomische, entscheidungstheoretische, risikoethische Bildung. Das bedeutet, dass wir investieren, zum Beispiel in Produktionsstätten, in dem Wissen, dass vielleicht die Mehrzahl dieser Produktionsstätten dann wieder abgerissen werden müssen oder umgenutzt werden müssen. Aber das lohnt sich ja trotzdem extrem im Erwartungsnutzen, weil die Situation, die wir jetzt hatten, war die, dass wir mehrere Monate warten mussten auf den Impfstoff. Und ja, das hat unglaublich viele Leben gekostet. Das hat einen unglaublich hohen sozioökonomischen Preis. Und das haben wir einfach total verschlafen. Und dito was die globale Verteilung von Impfstoffen betrifft, also in Publikationen mit Florian Cheffai und anderen zum Beispiel habe ich mich auch sehr früh dafür ausgesprochen, dass die reichen Staaten sofort Impfstoffe bereitstellen sollten für den ganzen Globus. Und zwar aus zwei Gründen: einerseits einfach rein aus prudentiellen egoistischen Gründen, denn also, wenn es zu einer Durchseucht kommt in den ärmeren Ländern, dann steigt zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit, dass sich dann neue Varianten bilden, die dann den Impfschutz durchbrechen usw.. Jetzt haben wir tatsächlich diese Omikron-Variante. Es kam genau so und es ist kein Hexenwerk, das irgendwie vorherzusagen, dass das wahrscheinlich sein würde. Aber es wäre natürlich auch humanitär, auch altruistisch absolut geboten und es wäre wirklich ein Schnäppchen. Also es gibt zum Beispiel Harvard Studien, die das so beziffert haben, dass wir also auch in den reichen Ländern für jeden Euro, also jeden Dollar, den wir in die globale Impfung investieren, am Ende vermutlich mehr als hundert Euro Dollar zurückkriegen, also sogar für uns selbst an verhinderten ökonomischen Schäden. Also es ist sozusagen egoistisch-prudentiell wie auch altruistisch komplett unverständlich. Es ist schon eigentlich eine krasse Irrationalität hier am Werke, also dass man dann noch kognitionspsychologisch fragen muss: ja, was sind eigentlich sozusagen die Hindernisse in unserem Geist? Das ist keine neue Erkenntnis, natürlich große Mühe zu haben, insbesondere Situationen richtig zu konzeptualisieren, wo wir es tiefen Wahrscheinlichkeiten zu tun haben, die Stakes aber sehr hoch sind und so weiter. Da hätte eben auch unternehmerische Expertise dann also, wenn man zum Beispiel als Investor bemüht ist, auch irgendwie die goldene Nadel im Heuhaufen zu finden, zum Beispiel unter neuen Startups oder so was. Ja, dann weiß man halt, dass sich Diversifizierungsstrategien lohnen, dass es sich auch lohnt, auch größere Beträge in den Sand zu setzen. Dass das schon bekannt ist, dass diejenigen Investments, die dann zum Erfolg führen, natürlich zu einer massiven Überkompensieren der Verluste führen und so weiter und so fort. Ich glaube, da hätte man wirklich gesellschaftlich verfügbare Expertise auch viel, viel breiter konsultieren müssen. 

Sarah: Von diesem globalen Makrothema würde ich jetzt gerne noch mal auf eine individuelle Ebene gehen, die wir gerade eben auch schon ein paar Mal angesprochen haben. Ich finde dieses Konzept von triagieren und sich fragen, wo ich im Alltag eigentlich Triageentscheidungen treffe im Sinne von wo ich mich dafür entscheide, welche meiner sehr begrenzten oder unser aller sehr begrenzten Ressourcen für was aufgewendet werden. Wenn du jetzt so Alltagsentscheidungen triffst; also wenn du jetzt zum Beispiel entscheidest, wofür du dein Geld, dein Geld oder deine Zeit auf wendest, welche ethischen Überlegungen laufen da bei dir ab? Oder gehst auch irgendwelche Schemata durch? Jetzt vielleicht auch bei nicht nur Alltagsentscheidungen, sondern auch größeren Entscheidungen. Was passiert da bei dir?

Adriano: Ja, ich meine, ich weiß nicht, ob ich vom Schemata sprechen würde, das suggeriert eine recht präzise Formalisierbarkeit vielleicht, da bin ich mir nicht sicher, inwieweit man die die Formalisierung oder Algorithmisierung vielleicht auch auch treiben kann. Aber ja, ich vergegenwärtige mir sicher, was unterschiedliche plausible ethische Handlungsgründe, auch politische Handlungsgründe nahelegen. Und ein Handlungsgrund bezieht sich sicher auf das globale Wohlergehen. Also kann man fragen wo ist das Leid am intensivsten? Also wo ist vielleicht die Präferenzverletzung am umfassendsten? Vielleicht auch wo kann man Glück erzeugen? Also Wohlergehen ist sicher relevant. Dann sind aber auch Gerechtigkeitsüberlegungen relevant. Also entspricht ein gewisses Vorgehen vielleicht eine gewisse Strategie, die man ergreifen könnte? Führt das irgendwie auch zu einer gerechten und den Einzelnen gegenüber rechtfertigtbaren Verteilung wichtiger Güter? Hat man die schlechtest gestellten mit einem adäquaten Vorrang berücksichtigt usw. und dann auf einer persönlichen Ebene natürlich auch. Ja, also: komme ich meinen vermutlich besonderen Pflichten aus meinem Nahbereich gegenüber hinreichend nach? Es scheint durchaus legitim, auch in einer von Katastrophen geprägten Welt sich selbst auch angemessen zu privilegieren und die Nächsten. also das sind alles Überlegungen, die ethisch sicher auch relevant da sind. Ich habe ja auch erwähnt, dass ja, wann immer wir uns selbst Ressourcen zuteilen, zum Beispiel für Luxusgüter, aber auch wenn sie eben auch wenn sie existenziell relevante Güter sein. Es ist ja auch eine Form der Makrotriage, auch wenn ich sozusagen mich um mich selbst und meine Nächsten kümmere, dann hätte ich mit den Ressourcen auch was anders tun können und vielleicht viel, viel mehr Menschen auch vor dem Tod retten können, denen es auch viel schlechter geht. Klarerweise sind diesen Überlegungen auch ethische Grenzen gesetzt und das führt dann so zu einem pluralistischen, eben nicht monistischen Bild der Ethik. Monistische klassische Ethiken wäre zum Beispiel der Utilitarismus, der kennt ein einziges Prinzip Leidminimierung und Glücksmaximierung. Der Kantianimus kennt auch nur ein Prinzip. Ja, also Achtung des kategorischen Imperativs. Aber diese monistischen Ethiken scheinen mir aus verschiedenen Gründen sehr unplausibel und es scheint viel plausibler, einen pluralistischen Weg hier zu gehen und zu fragen, welche Handlungsweisen, welche Strategien erweisen sich denn als gut begründet aus einer Vielzahl ethischer Perspektiven heraus und vielleicht auch aus einer Vielzahl empirischer Perspektiven. Also die empirischen Fakten sind oft ja auch unsicher, gerade auch im Kontext zum Beispiel sich entwickelnder laufender Katastrophen - also auch im Kontext einer sich dynamisch entwickelnden Pandemie. Das sind die Fakten ja auch oft unklar. Und ja, es bietet sich halt an, wirklich intensiv zu versuchen, Strategien zu finden, die empfehlenswert scheinen aus der Warte unterschiedlicher, plausibler ethische Perspektiven, politische Perspektiven und auch empirischer empirischen Perspektiven. Das ist so ein Rezept, wenn man so will, dem ich folge -

Adriano: Ja, ich glaube, am Ende führt auch kein Weg. Wie auch immer man es dreht und wendet an unserer Intuition vorbei. Also oft. Also wenn man solche Pluralismen vertritt, wie ich sie gerade skizziert habe, ist man oft mit dem Einwand konfrontiert, dass völlig unklar sei, wie zwischen unterschiedlichen moralischen Handlungsgründen abgewogen werden muss. Die Sache ist aber die, dass schon bei der Bestimmung der einzelnen moralischen Handlungsgründe - zum Beispiel, ich habe einen wohlergehensbezogen, also einen auf Glück bezogenen Handlungsgrund erwähnt, ich habe Gerechtigkeitsgründe erwähnt. Schon bei der Bestimmung dieser Handlungsgründe scheint mir ein Rückgriff auf unsere Intuitionen unvermeidbar -

Sarah: Was meinst du mit Intuition? Sowas wie: die Grenzen erkennen, zum Beispiel merken, wann irgendwas sich nicht mehr gut anfühlt. Oder was meinst du damit genau?

Adriano: Genau, das müssten natürlich schon mehr sein als oberflächliche Bauchgefühle. Man spricht oft von well-considered intuitions oder judgments. Also ja, man muss sich halt überlegen, auch wenn man zu bestimmen versucht, welchen Prozentsatz der eigenen Ressourcen, zum Beispiel des eigenen Einkommens, der eigenen Zeit man investiert, um globale meinen eigenen Beitrag zu globalen Herausforderungen zu leisten, muss man sich halt überlegen, welcher Grad der Priorisierung der eigenen Person, vielleicht der eigenen Familie und so weiter, einem plausibel erscheint. Das ist eine sorgfältige Abwägung, die man treffen kann. Die aber scheint mir nolens volens auch dazu führt, dass man sich auf Intuitionen wird berufen müssen. Und das scheint mir auch nicht per se problematisch. Das scheint mir geradezu unausweichlich. Und sozial stellt man dann vielleicht fest, dass unterschiedliche Menschen, die diese Dinge erwägen, unterschiedliche Intuitionen haben. Und hier lässt sich dann auch zum Beispiel argumentieren, dass man auch politisch dann vielleicht nach Kompromissen suchen sollte. Es werden Win-Win Kompromisse, sodass wir kooperieren können. Und so, dass die am Ende gewählte Handlungsstrategie vielleicht aus der Sicht deiner fundamentalen Intuitionen und aus der Sicht meiner fundamentalen Intuitionen sinnvoll ist. 

Sarah: Ich wollte noch auf einen etwas anderen Punkt hinaus und dazu eine Meinung hören. Weil bei diesem ganzen Gedanken, wie viel Zeit, Energie, Ressourcen man für fremde Menschen, denen man gegebenenfalls viel helfen kann, aufwendet, geht man ja zum Beispiel beim Thema Klimawandel dann auch so weit zu argumentieren, dass jetzt auch unsere Kinder, Enkelkinder wie auch immer mit berücksichtigt werden bei den Entscheidungen, die wir heute treffen und den Ressourcenentscheidungen die wir heute treffen. Was denkst du denn allgemein dazu, bei Triageentscheidungen künftige Menschen mit einzubeziehen, die es noch gar nicht gibt.

Adriano: Ja, also ich glaube, sozusagen eine weitere Erweiterung unseres Blicks. Also wir haben über Entwicklungszusammenarbeit gesprochen. Da weiten den Blick räumlich und nehmen sozusagen eine kosmopolitische Perspektive ein. Jetzt können wir auch in der Zeitdimension unseren Blick natürlich weiten und dann, wenn man so will, eine chronopolitische Perspektive einnehmen. Und ich glaube, da spricht auch alles dafür, künftige, noch ungeborene Menschen, zumal dann, wenn wir sozusagen schon absehen können, dass sie geboren werden, die auch voll und ganz im Grundsatz mit einzubeziehen in den Kreis derjenigen, die moralisch zählen. Und wenn wir es mit Verteilungsfragen dann wiederum zu tun haben wie sollten wir halt priorisieren, wenn wir mit begrenzten Ressourcen was Gutes tun wollen? Nicht nur was Gutes, auch was Gerechtes und so weiter. Also etwas, was maximal gut begründet ist im Lichte dessen, was moralisch zählt und was wir empirisch wissen. Ja, dann steigt sozusagen der Triagedruck, der steigt dann. Aber so ist das nun mal. Also die Welt, so scheint es, ist leider kein Ponyhof, sondern das Geld, das Gegenteil davon. Und ja, ich glaube, daran führt kein Weg vorbei. Also zu sagen: grundsätzlich zählen Menschen Menschenleben am anderen Ende der Welt genau gleich viel im Grundsatz. Eine Art moralische Basisgleichheit. Und das gilt auch für alle künftigen Generationen. Man kann sich dieselbe Frage auch stellen bezüglich der nichtmenschlichen Natur, insbesondere soweit sie auch leiden kann und Präferenzen hat und vielleicht auch den Status als Individuum beanspruchen kann. Also was ist mit den empfindungsfähigen Tieren zum Beispiel? Wenn man die ernst nimmt, dann weitet sich die globale Population der moralisch zählenden Individuen auch ganz massiv aus. Und ja, wir haben es halt mit einem beschränkten Ressourcenpool zu tun. Und der Triagedruck, der steigt dann schon, weil wir immer mehr mehr Individuen haben, die legitime Ansprüche geltend machen können. Und ich glaube, man muss dann, also zumindest was menschliche Entwicklung betrifft - aber ich glaube, es gibt durchaus auch bedenkenswerte Argumente, die dafür sprechen würden, dass auch tierlichen Individuen, nichtmenschlichen Individuen zuzugestehen - ich glaube, es ist plausibel, von einer moralischen Basisgleichheit auszugehen, und eine große, auch moraltheoretische Challenge ist dann die, ob diese Basisgleichheit irgendwie kohärent gemacht werden kann, ob die vereinbar ist mit unseren doch starken Intuitionen, dass es legitim ist, gewisse Abstufungen vorzunehmen, also zum Beispiel die eigene Person etwas zu privilegieren, den eigenen Nahbereich etwas zu privilegieren, vielleicht die Mitbürgerinnen und Mitbürger etwas zu privilegieren, vielleicht alle Menschen etwas zu privilegieren auch gegenüber den Tieren und vielleicht alle gegenwärtigen etwas zu privilegieren gegenüber dem Künftigen. Ein Ansatz ist der, dass man versucht, Gründe der legitimen Parteilichkeit geltend zu machen und so das möglich ist, noch weiter zu fundieren. Und ein Ansatzpunkt ist auch schon der, dass insbesondere eine gewisse Parteilichkeit der eigenen Person gegenüber sehr, sehr schwer zu bestreiten ist, weil sonst hat man dieses Phänomen, dass man eigentlich alles, also auch die schlimmsten Folterqualen in Kauf nehmen müsste für die eigene Person, um noch Schlimmeres zu verhindern in der großen weiten Welt da draußen. Und je nachdem droht eben auch die Konklusion, also man stellt dann schnell mal fest zum Beispiel, dass ja die global Armen sehr viel zahlreicher sind als die lokal Armen. Und das führt dann zur Frage: Naja, entspricht das plötzlich einem Argument, zum Beispiel den hiesigen Sozialstaat irgendwie einzustampfen, damit die entsprechenden Ressourcen frei werden, weil damit könnten wir ja viel mehr Menschen an der Zahl helfen, also Wohlergehensgrund und diese Menschen gehören auch noch zu den vergleichsweise schlechter gestellten. Was also noch ein Gerechtigkeitsgrund wäre, der vielleicht für dieselbe Konklusion sprechen würde und dann merkt man: Wenn wir die Tiere miteinbeziehen, das sind nochmal viel mehr und erst recht gilt das, wenn wir unseren Blick auch zeitlich weiten und die künftigen Generationen in den Blick nehmen. Also diese Erwägungen, die drohen dann alles andere komplett in den Schatten zu stellen. Aber das schien halt moralisch auch sehr problematisch und das sieht man vielleicht am besten dort, wo man eben durchaus nicht gewillt ist, die Privilegierung der eigenen Person vollständig aufzugeben, ganz egal, wie viele Leidende und schlechter gestellt es in der Welt da draußen gibt. Und wenn das legitim ist bezüglich der eigenen Person, dann ist das vielleicht doch legitim bezüglich des Nahbereichs, bezüglich der Mitbürger usw. Dann hat man sozusagen unterschiedlich weit gezogene Kreise der Parteilichkeit, die den moralischen Raum sozusagen vorstrukturieren. Und innerhalb dieser Struktur kann man dann trotzdem und muss man, glaube ich, tatsächlich fragen: Wo sind die Stakes am höchsten? Also wo sind die vielleicht die meisten Individuen von intensivem Leid bedroht? Und wo sind die Individuen auch vergleichsweise am schlechtesten gestellt? Und das wird dann glaube ich auf in diesem zweiten Schritt schon auch ganz, ganz ausschlaggebend. Ein wichtiger Gesichtspunkt ist natürlich auch der, dass wir auch Wege haben, diesen Triagedruck, diesen Makrotriagedruck zu reduzieren, nämlich dadurch, dass wir alle halt viel, viel mehr Ressourcen auch - ich glaube, daran führt moralisch letztendlich, das könnten wir auch jetzt lang und breit erörtern, wie weit reichen unsere Hilfspflichten. Also ich glaube schon, dass wir einfach viel zu wenig abgeben. An uns geht es so gut, auch im welthistorischen Vergleich, also Menschen in den aktuell reichsten Staaten. Wir sind wirklich mit Abstand die reichste Generation, die es je gab auf Erden. Und trotzdem geben wir einfach beschämend wenig weg. Und das zeigt sich eben jetzt auch in der Pandemie. Also wir sind noch nicht bereit wirklich aggressiv im kriegswirtschaftlichen Stil einfach zu sagen: Ja, jetzt ziehen wir einfach alle Fabriken hoch, die zur Impfstoffsproduktion notwendig sind. Wir richten noch nicht einmal ein Krisenstab ein. Das kommt erst jetzt. Also wir haben ein radikales Underinvestment, weil wir diese Katastrophen nicht so wirklich als Katastrophen ernst nehmen und fühlen. Also wenn man zurückblickt auch welthistorisch auf Situationen und Phasen, wo die Leute eine Katastrophe wirklich als Katastrophe erlebt haben. Nehmen wir den Zweiten Weltkrieg zum Beispiel. Also da gab es in vielen Staaten das Phänomen, dass ein wirklich massiver Anteil des Bruttoinlandsprodukts einfach in die Kriegsbestrebungen floss. Also man hat das natürlich auch auf allen Seiten und manche Seiten lagen da fatal falsch, als gerechten Krieg wahrgenommen. Und da hat man teilweise 30, 40, 50 prozent des Bruttoinlandsprodukts bemüht, um diese Kriegsbestrebungen zu unterstützen. Also eine völlig undenkbare, eigentlich schon denkbare gesellschaftliche Mobilisierung an Ressourcen. Wenn man eine Katastrophe wirklich als Katastrophe wahrnimmt und auch fühlt. Und ja, davon sind wir einfach bezüglich vieler Katastrophen meilenweit entfernt. Ich verstehe natürlich schon, es wurde von anderen Philosophen und Philosophen wurde diese Kriegsrhetorik kritisiert im Zusammenhang mit Pandemien. Manche Staatsoberhäupter. Präsident Macron hat dieses Wort geprägt: "Nous sommes en guerre" - wir sind im Krieg. Und ja, klar, wir sind nicht literal im Krieg gegen Menschen, die da eine Invasion durchführen. Aber wir sind im Krieg gegen diesen kleinen, unsichtbaren Feind, gegen diesen Mikroorganismus. Das ist auch eine Invasion und sind einfach Hunderttausende, also global viele Millionen Menschenleben bedroht. Hunderte Millionen global drohen schwer verletzt zu enden. Long Covid und was dergleichen mehr ist. Und es sind Billionen an wirtschaftlichem, sozioökonomischen Wert auf dem Spiel. Und ja, wir haben es nicht geschafft, in diesen War Economy Modus zu gelangen, wo wir wirklich sagen Krisenstab. Und jetzt müssen wir einfach für eine begrenzte Zeit alle gesellschaftlichen Ressourcen mobilisieren, um diesen Feind irgendwie zu besiegen und wirklich bewältigen zu können. Also in diesem Modus sind wir, sind wir leider nicht gekommen. Und ja, ich glaube durchaus, dass dieser Modus eben auch adäquat wäre bezüglich der vielen Katastrophen. Die Katastrophen, die halt laufen, also die Weltarmut, die extreme Armut ist eine solche Katastrophe. Das was mit den Tieren geschieht, ist auch eine Katastrophe. Ja, was an der Klimawandel Front geschieht, ist eine solche Katastrophe, die ich meine. Wir müssen Katastrophen auch als Katastrophen fühlen, um dann auch entsprechend in adäquaten Maße Ressourcen zu investieren. Und wenn wir das tun würden, dann würde sich eben auch der Triagedruck sofort reduzieren. Also wir hätten dann wirklich auch hinreichend, also hinreichend würde es nicht, weil es gibt noch so viele Individuen da draußen, eben, wenn man sie alle adäquat berücksichtigen will. Die global Armen, die Tiere, alle künftigen. Wir werden nicht allen helfen können, aber wir könnten den Triagedruck zumindest ganz massiv reduzieren, wenn wir gewillt wären, einfach viel, viel mehr Ressourcen in die Prävention und Reduktion laufender und potenzieller Katastrophen zu investieren.

Sarah: Und genau weil das so ein emotional so wahnsinnig schwer fassbares Thema ist, tue ich mir immer so schwer mit dem Wort intuitiv. Auch in diesem globalen Kontext ist es halt so wahnsinnig schwer, Leid und mögliche Katastrophen Risiken zu fassen, so dass ich das Gefühl habe, da halt empirisch rational ranzugehen und nicht darauf zu hoffen, dass Menschen irgendwie Mitleid entwickeln oder Empathie entwickeln mit potenziell künftigen Generationen in 100, 200, 300 Jahren. Ähnlich mit den Tieren. Also es funktioniert ja offensichtlich nicht, über eine emotionale Ebene zu machen. Also offensichtlich ist die Empathie mit Tieren und die moralische Betrachtung von Tieren, der moralische Wert von Tieren. Es ist einfach emotional irgendwie nicht so stark ausgeprägt aus bestimmt auch mega interessanten Gründen. Ja, weswegen ich da nicht so gerne emotional auf die Themen gucke.

Adriano: Ja, ja. Nein, ich glaube es ist ist sehr vertrackt. Mit Intuitionen meine ich im Übrigen auch nicht irgendwie oberflächliche Bauchgefühle, sondern ich meine wirklich so fundamentale Einsichten, denen man sich fast nicht entziehen kann, die oft am Ende auch lange Begründungsregresse stehen. Wenn ich jetzt wirklich ganz rational und vielleicht auch kühl abwägend mir zum Beispiel entscheidungstheoretische Fragen vergegenwärtige und die Wahrscheinlichkeiten und die und die Stakes und so weiter. Am Ende muss ich mich auch auf einen gewissen Entscheidungsalgorithmus vielleicht festlegen. Oder wenn ich unsicher bin zwischen unterschiedlichen Entscheidungsalgorithmen, dann brauche ich eine Meta-Perspektive drauf. Am Ende habe ich aber gewisse Festlegungen und Fixpunkte und hier wüsste ich nicht, wie man die Intuition vermeiden könnte. Und ansonsten spreche ich mich meistens für etwas aus, was ich Fühldenken nenne. Feel Thinking. Also ich glaube, kein rationales Argument, zum Beispiel weitreichende Hilfs Pflichten gegenüber den Armen zu akzeptieren oder nicht, Schadens- und Hilfspflichten gegenüber den Tieren oder den Künftigem. Also all diese Argumente kommen natürlich nicht ohne Prämissen aus. Und ja, wer dort keinen emotionalen Pull verspürt, der wird auch nicht geneigt sein - vielleicht wird das auch in abstracto so im Sinne eines, ich weiß nicht, ob man das, wenn man Moralphilosophie als intellektuelles Spiel betrachtet, würde man vielleicht noch Zustimmung erhalten zu den Konklusionen, aber es würden dann glaube ich wenig Taten folgen. Also ich glaube schon, dass man auch die Stakes durchaus emotional fühlen muss. Und ich glaube, das geht beides zusammen. Manchmal wird auch gesagt ja, wenn Tierschutzorganisationen mit Bildern arbeiten oder so.. Diese Bilder sind sind philosophisch sehr, sehr gute Argumente. Also wir müssen uns auch anschauen, was es bedeutet so krass zu leiden als Mensch, als nicht menschliches Wesen und so weiter. Denn es fällt uns sehr leicht gerade als Menschen, die wir dann weg in reichen Ländern hochgradig privilegiert aufgewachsen sind. Vielleicht haben wir oft auch überhaupt keinen adäquaten Begriff dessen, was es bedeutet, so intensiv zu leiden. Und deswegen glaube ich, ist es schon sehr wichtig, da auch einfach hinzuschauen. Und ja, ich glaube, ohne emotionale Betroffenheit wird man kaum Zustimmung zu den Prämissen rationaler Argumente kriegen; zumindest nicht Zustimmung, die dann dazu führt, dass auch gehandelt wird.

Sarah: Genau, wir haben jetzt ja schon ein paar Stellen den Wert von Tieren und wie man über Tiere aus einer moralischen Perspektive nachdenken kann, angesprochen. Du bringst da in ein paar Monaten auch ein weiteres Büchlein raus oder bist an einem Büchlein beteiligt, und zwar an einer Übersetzung von Peter Singers All Animals are equal. Peter Singer ist ein bekannter Philosoph, der vor allem für utilitaristische Ideen steht und bekannt geworden ist. Wo du mit einem Co-Autor...

Adriano: ...einer Co-Autorin! Marina Moreno.

Sarah: Entschuldige! Ja, einen langen Kommentar verfasst hast. Deswegen die Frage: Was ist eigentlich mit Tieren? Wie hoch ist deren moralischer Wert und wie kann man den bemessen? Oder wie bemisst du denn?

Adriano: Ja, schwierige und gute wichtige Frage. Du hast es angedeutet. Historisch hat sich insbesondere die utilitaristische Tradition für unsere Pflichten den Tieren gegenüber interessiert. Mir scheint aber, dass das eigentlich völlig orthogonal steht, da zu diesen allgemeinen moraltheoretischen Fragen. Tatsächlich beginnen sich in jüngerer Zeit auch viele Kantianerinnen und Kantianer zum Beispiel für Tiere zu interessieren. Christine Korsgaard ist ein sehr prominentes Beispiel einer Kantianerin. Zentral ist hier der Begriff des Speziesismus. Das ist die ungerechtfertigte Abwertung oder schlechte Behandlung, Diskriminierung mancher Individuen aufgrund ihrer Spezies-Zugehörigkeit. Und nun kann man speziesistische oder eben nicht speziesistische Positionen vertreten  - als Utilitarist, als Konsequenzialist, als Kantianierin und weiterer Moraltheorien mehr. Insofern steht das orthogonal zu diesen allgemeinen moraltheoretischen Fragen. Und ja, es ist, das hat mich vor zehn Jahren schon beeindruckt. Ich meine, man wächst halt auf in einer Gesellschaft, in der der Fleischkonsum zum Beispiel der Norm entspricht und beginnt irgendwann vielleicht darüber nachzudenken. Vielleicht sieht man auch Bilder. Auch das sind philosophische Argumente. Man sieht Bilder vom ganzen Tierleid und was wir diesen Tieren antun. Und ja, macht sich dann Kohärenzüberlegungen und fragt sich ja was, wenn das Hunde wären eigentlich? Und empirisch ist es so, dass Schweine mindestens so empfindsam und wohl noch intelligenter sind, noch als Hunde. Ja, wenn man das Hunde wären, dann wäre der Straftatbestand der Tierquälerei unstrittig. Und warum soll das dann rechtens sein, das mit Schweinen zu tun oder Hühnern? Das erschließt sich nicht. Und das ist jetzt aber noch kompatibel mit einer weiteren hochgradig speziesistischen These, die sagen würde: Ja, die Tiere zählen nicht nichts, aber Menschen zählen vielleicht schon kategorial mehr, sind halt in einer ganz anderen moralischen Kategorie. Und ja, vielleicht zählen sie sogar unendlich mehr. In gewisser Weise, vielleicht, vielleicht ist eine Abwägung möglich zwischen trivialen menschlichen Bedürfnissen und vitalen Tierleben. Also wenn jetzt zum Beispiel ich weiß nicht, Leben und Leid von Tieren gegen Gaumenspaß von Menschen steht, dann zieht der Gaumenspaß von Menschen den Kürzeren. Sobald aber vitale Bedürfnisse bei uns auch auf dem Spiel stehen, müssen die priorisiert werden. Das sind vielleicht auch plausible Interpretationen, mit denen man startet -

Sarah: Also wenn ich jetzt verhungern würde, wenn ich ein Tier nicht esse, dann ist es in dem Sinne moralisch gerechtfertigt, wohingegen einfach nur der Sättigung willen oder das überfressen, vielleicht sogar noch ist es moralisch nicht gerechtfertigt von dem Framwork, was du gerade benutzt?

Adriano: Oder wenn du zum Beispiel ich weiß nicht, zum Überleben... um mal wieder die Organspende zu bemühen: Du brauchst ein Organ, aber schaffst das nicht hinreichend schnell oben an die Liste. Und ja, würdest dann auf die Idee kommen, ist makaber, einen Menschen zu kidnappen und umzubringen, um dir dort ein Organ zu beschaffen. Das ginge nicht. Wenn es jetzt aber ein Schwein ist, und da gibt es ja auch Möglichkeiten der Transplantation, ist es weniger klar, dass das ein absolutes moralisches No-Go ist. Und jetzt gibt es aber interessante Argumente, die dazu führen, dass man diese Intuitionen vielleicht in Frage stellt und sich vielleicht einer nicht speziesistischen Position annähert. Man muss sich dann die Frage stellen: Was rechtfertigt eigentlich diese Abwertung, auch wenn das Schwein zählt? Und wenn man deswegen zum Beispiel Vegetarier oder Veganerin wird und sagt Ja gut, das hier ist mein Gaumenspaß gegen das Leid und das Leben des Schweins. Also klarerweise haben die Interessen des Schweins hier Vorrang. Und trotzdem wäre es dann so, wenn man diese Themen abwägen zu tun haben von der Art vitale Menscheninteressen gegen vitale Tierinteressen. Und diese Abwägungen, die sind unumgänglich. Also wenn wir zum Beispiel knappe Ressourcen zu verteilen haben, auch im Rahmen einer Makro-Triage. Also wenn ich zum Beispiel ein knappes Spendenbudget oder knappes Zeitbudget auch als Aktivist habe, dann stellt sich die Frage: Na ja, also steht den Tieren jetzt auch einen Anteil zu? Oder gerade nicht? Weil vitale Tierinteressen lexikalisch, wie man dann sagt, kategorisch den vitalen Menscheninteressen unterzuordnen sind? Und wenn das aber so ist, das mag eine Intuition sein, dann kann man fragen: Ist es vereinbar mit anderen Intuitionen, die wir vielleicht haben? Andere Intuitionen sagen vielleicht, dass eine unparteiische Perspektive, eine strikt antidiskriminatorische Perspektive adäquat ist. Da kann man sich fragen: Was rechtfertigt denn diese Diskriminierung des Schweins? Eine erste Idee besteht vielleicht darin: Naja, es ist weniger intelligent, Vernunftfähigkeit und vielleicht auch moralische Fähigkeiten, Sprachfähigkeit und was dergleichen mehr ist? Nun hat man hier aber das Problem, dass diese Fähigkeit ja auch manchen Menschen abgeht. Also Kleinkinder haben diese Fähigkeiten nicht, demente alte Personen haben sie nicht. Hier kann man vielleicht sagen: Kleinkinder werden sie haben, demente Alte hatten sie mal. Aber was ist dann mit Menschen, die aufgrund einer vielleicht genetischen Anomalie diese Fähigkeiten weder potenziell noch tatsächlich jemals hatten und haben werden? Also prima facie scheint es dann so, dass wenn man Vernunft bezogene Fähigkeiten hier als moralische Relevanzkriterien vorschlägt, dass man diese Menschen dann auch diskriminieren würde, und klarerweise wäre das ein absolutes moralisches No-Go. Also werden wir sozusagen alle Menschen unabhängig von ihren kognitiven Fähigkeiten gleichermaßen einschließen wollen in den Kreis derjenigen, die moralisch voll zählen. Dann ist es unglaublich schwer, ein Argument vorzubringen, dass die Tiere gleichzeitig dann ausschließt. Das einzige plausible Merkmal, auf das man sich beziehen kann, am Ende in diesen Debatten um alle Menschen wirklich gleichermaßen einzuschließen, ist vielleicht die Empfindungsfähigkeit, dass man sagt, wenn man empfindungsfähig ist, dann hat man eine Zukunft, die die Leid und Glück umfassen kann. Man hat auch Präferenzen und so weiter und so fort. Und das begründet die Basisgleichheit, diesen basisgleichen moralischen Status. Ja, dann ist es empirisch natürlich eine Trivialität, wie es scheint festzustellen, dass wir nicht die einzigen - wir sind ja auch Tiere, wie wir spätestens seit Darwin wissen. Wir Menschen sind nicht der einzige Tierart, deren Mitglieder empfindungsfähig sind. Und wenn man diesem Argument in groben Zügen folgt, dann erweitert sich der Kreis derjenigen, die auf diesem Planeten und auch in der gegenwärtigen Generation moralisch voll zählen. Dieser Kreis erweitert sich radikal, also in einer kosmopolitischen Perspektive umfasst die Weltbürgerschaft, wenn man so will dann auch alle Tiere und das erhöht natürlich in Makrotriage-Prozessen den Druck ganz massiv dann. Aber ich glaube, es wäre wiederum halt einfach Wunschdenken und ein Fehlargument zu sagen, nur weil uns diese Konklusion nicht behagt, dass wir dann bei Makrotriageprozessen auch diese vielen Abermilliarden Tiere mit berücksichtigen müssten, ja, dass das dazu führt, dass wir die einfach ausschließen, wenn wirklich fundamentale moralische Argumente und sehr, sehr starke Intuitionen am Ende, denen man sich nicht entziehen kann. Also wenn man sich fragt, wie stark ist, dass das intuitive Commitment zur Unparteilichkeit, zu Nichtdiskriminierung, die eben eine gewisse Basisgleichheit begründet? Ich glaube, dass dieses Commitment, das intuitiv einfach stärker als die widerstreitenden Intuitionen, die man zunächst auch haben mag und die vielleicht in eine andere Richtung weisen, nämlich in die Richtung, dass Tiere schon etwas zählen. Aber sobald vitale menschliche Interessen auf dem Spiel stehen, dann halt doch kategorisch weniger zählen. Ich glaube, ich habe auch über die Jahre stark an diesen Intuitionen zu zweifeln begonnen, weil ich eben glaube, eingesehen zu haben, dass aus fundamentalen und stärkeren Intuitionen, eben bezogen auf Unparteilichkeit und was dergleichen mehr ist, durchaus folgt, dass wir die vitalen Interessen von Tieren nicht ohne Weiteres den vitalen Interessen von Menschen unterordnen können.

Sarah: Du interessierst dich aktuell stark für Demokratie als Thema. Magst du einmal kurz erzählen, was dich an dem Thema Demokratie interessiert und wieso?

Adriano: Ist eine riesige Frage. Ganz viele Dinge scheinen mir spannend und wichtig, also wir hatten es von der Katastrophenprävention. Es gibt natürlich auch politische Katastrophenrisiken, angefangen beim Impfgegnertum, was sich als Katastrophenrisiko auswirken kann während einer Pandemie und natürlich auch demokratietheoretische Fragen aufwirft, dann ja die ganze Polarisierung, die wir doch in vielen Staaten demokratischen Staaten beobachten. Das scheint mir auch ein politisches Katastrophenrisiko zu sein. Ich glaube, die USA kamen jetzt auch im Kontext Trump und Präsidentschaftswahl, einem Bürgerkrieg oder bürgerkriegsähnlichen Zuständen sehr nahe. Das ist alles vielleicht viel fragiler als man denkt. Also auch dort, glaube ich, gehen wir oft mit einer gewissen Naivität an diese Fragen ran. Dort sind wir vielleicht auch aus existenziellen Katastrophen näher, als uns lieb ist. Das ist ein Zugang. Dann auch die Frage, wie sich Populationen, die ethisch vielleicht eben auch voll zahlen. Wir hatten es jetzt von den Tieren gerade. Wir haben die global Armen und Ärmsten erwähnt, die künftigen Generationen, also Entscheidungen, die wir hier in einem sozioökonomisch reichen, liberal demokratischen Staatswesen fällen. Diese Entscheidungen haben Konsequenzen für all diese Individuen und Populationen. Die haben Auswirkungen auf Menschen, die migrieren wollen in unser Gemeinwesen hinein. Das wirft Wohlergehens- und Gerechtigkeitsbezogene und weitere Fragen mehr auf. Diese Entscheidungen, die wir hier demokratisch wählen, haben Auswirkungen auf die Ärmsten, haben Auswirkungen auf die Tiere und über die Umwelt und auf anderen Wegen auf künftige Generationen usw. Und das wirft die philosophische und vielleicht auch politologische Frage am Ende auf, wie man diese Populationen am besten repräsentieren kann. Im Rahmen unserer Demokratie. Und ich meine, das ist kein komplett neuartiges Problem. Dieses Problem stellt sich ja auch bezüglich der Repräsentation, zum Beispiel vom nicht urteilsfähigen Menschen oder noch nicht urteilsfähigen Menschen, von Kindern, von alten, dementen Personen, vielleicht auch von Personen mit einer Behinderung. Auch dort stellt sich die Frage: Wie können wir die angemessen inkludieren und repräsentieren im Rahmen unseres demokratischen Gemeinwesens? Das ist auch eine Frage, die mich stark beschäftigt.

Sarah: Und woran arbeitest du da gerade?

Adriano: Unterschiedliche Dinge; also ich bin beteiligt an Forschungsgruppen, die Konzepte zu entwickeln suchen eben zur Repräsentation diese Populationen und Individuen, die sich nicht selbst repräsentieren kann, und da sind unterschiedliche Instrumente möglich legislativer und judikativer Art. Zum Beispiel die Möglichkeit gegeben, einen Anwalt einzuführen, einen Anwaltsposten für künftige Generationen. Dann sind Möglichkeiten der legislativen Repräsentation möglich. Ein interessanter Vorschlag, aber stammt nicht von mir selbst. Aber der geistert schon länger in der Literatur rum. Ist die Möglichkeit eines Bürgerrats für künftige Generationen im Sinne eines angereizten Zukunftsparlaments. Das kann man sich zum Beispiel so vorstellen, dass per Losverfahren Bürgerinnen und Bürger bestimmt werden, sich zu engagieren mit der expliziten Aufgabe, sich zu überlegen, welche Policys, welche Gesetzesvorschläge am besten geeignet wären, um zum Beispiel in einem Horizont von 30 Jahren möglichst gute und gerechte Resultate zu erzeugen. Und dieser Bürgerrat hätte vielleicht zunächst nur soft power, weil sonst wäre er wohl kaum einzuführen. Das wäre eine weitere Staatsgewalt, die konsultativ berücksichtigt werden müsste von den harten Staatsgewalten. In einem ersten Schritt, aber es wäre gut, wenn dieses angereizt Zukunftsparlament noch mit möglichst viel Ansehen ausgestattet würde. Die entsprechenden Mitglieder dort müssten auch gut bezahlt sein und so weiter. Und warum nenne ich das jetzt angereizt? Dann könnte es auch einen Anreiz wie folgt geben. In 30 Jahren könnte abgerechnet werden. Da könnte man dann im Rückblick zu bestimmen versuchen und vielleicht müsste das eine dann eine Gerichtsbehörde mit harter Gewalt dann auch entscheiden. Also vielleicht das oberste Gericht im Staate müsste dann darüber befinden, ob die Mitglieder dieses Zukunftsparlaments vor 30 Jahren sinnvolle Vorschläge gemacht haben, die beherzigt wurden oder auch nicht. Und wer wirklich sinnvolle Vorschläge gemacht hat mit Blick auf auf diesen 30 Jahre Horizont, der würde dann vielleicht zum Millionär. Oder sowas. Also mit dieser expliziten ökonomischen Anreizwirkung. Aber es gibt auch politologische Versuchungen, die suggerieren, dass dieser Anreizvielleicht gar nicht notwendig wäre. Dass es halt genügt, Menschen, wohlmeinenden Menschen diesen Auftrag zu geben, nicht Politik zu machen für die nächste Legislaturperiode und für die eigene Partei, sondern mit Blick auf die nächsten 30 Jahre. Wenn man sich vorstellt, wenn wir vor 30 Jahren schon, oder vor 20, 10 Jahren ein solches Zukunfts Parlament gehabt hätten, dann wären dort vielleicht Vorschläge zur Pandemieprävention unterbreitet worden. Das könnte einen Beitrag dazu leisten, dass die Politik sich vielleicht auch langfristiger orientiert. Denn aktuell sind die Anreize natürlich oft sehr stark, sich zu fokussieren, eben auf die nächsten vier Jahre und auch darauf, was vielleicht dem eigenen Machterhalt dient, der eigenen Partei usw..

Sarah: Und wir haben jetzt ja wie gesagt ganz schön viele Themen besprochen und angerissen. Wenn jetzt Hörerinnen denken, das möchte ich irgendwie auch gerne mehr wissen, sei es zu Demokratie, Triage oder den philosophischen Strömungen, die dich so geprägt haben und die deine pluralistische Sichtweise prägen. Was können diese Menschen denn dann hören, gucken oder lesen? Was würdest du so empfehlen, was dich stark geprägt hat, was andere vielleicht auch interessieren könnte?

Adriano: Ja, gute Frage. Da müsste ich mich jetzt vielleicht auch länger hinsetzen, um eine möglichst sinnvolle Literaturliste zusammenzustellen. Aber ja, ich glaube, es lohnt sich, es ist natürlich schon auch ein gewisses Zeit Investment, aber das lohnt sich schon: sich also nicht nur empirisch in unterschiedlichen wissenschaftlichen einzelwissenschaftlichen Disziplinen zu informieren, sondern auch philosophisch in ganz unterschiedlichen Traditionen der praktischen Philosophie. Der Utilitarismus hat sicher wichtige Beiträge geleistet, wenn auch mit einigem Limitationen. Du hast den Namen Peter Singer erwähnt. Empfehlenswert auch natürlich die ganze Literatur, die aus der Bewegung des Effektiven Altruismus kommt. Dann aber scheint es mir auch wichtig, durchaus ja andere Strömungen und Traditionslinien der praktischen Philosophie zur Kenntnis zu nehmen. So die ganze kantische Philosophie, kommt es nicht so leicht zu lesen im Original. Aber da gibt es auch gute Sekundärliteratur zu Literatur dazu von zeitgenössischen Philosophinnen, Philosophen im deutschen Sprachraum. Tim Henning zum Beispiel hat ein tolles Reclam-Büchlein über die kantische Philosophie verfasst. Auch der Kontraktualismus, also die Sozialvertragstradition scheint mir sehr wichtig. Zusammen mit dem Kantianismus, auch um zu verstehen, wie Demokratie funktioniert und Demokratie als Kooperation. Also hier sind Namen wie T. M Scanlon oder John Rawls wichtig, zeitgenössisch in Deutschland auch Julian Nida-Rümelin "Demokratie als Kooperation". Genau da würde ich anregen, sich sozusagen noch breiter, breiter kundig zu machen in unterschiedlichen Traditionen und sich dann pluralistisch zu überlegen, wie man das vielleicht kohärent zusammendenken kann und in der Praxis zur Anwendung bringen kann.  

Sarah: Die ganzen Literatur Empfehlungen werde ich natürlich in die Shwonotes und auf die Podcast Webseite packen wird davon auch noch einiges durcharbeiten wollen und müssen. Und du hast auch schon ansatzweise meine letzte Frage, die ich stellen wollte beantwortet. Und zwar was man denn tun kann. Wenn man einigen deiner Ansichten folgt oder eben auch die Welt im Positiven verändern möchte.

Adriano: Ja, ich meine, da kann man aktiv werden auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Ich meine, zunächst wird man im Geiste auch aktiv werden müssen. Das sind alles ganz vertrackte Fragen. Und ja, die Frage stellen müssen, was die größten und vielleicht drängendsten globalen Herausforderungen aktuell sind. Wobei, das ist schon ein Schritt, es ist auch nicht auszuschließen, dass lokale Herausforderungen manchmal zu priorisieren sind, also über diese Kreise vielleicht auch legitimer Parteilichkeit haben wir ja gesprochen. Man muss sich einfach kundig machen und sich überlegen, was normativ-moralphilosophisch vielleicht plausibel ist und das dann verbinden mit mit empirischen Erkenntnissen und sich so fragen, welche Probleme vielleicht am drängendsten sind und dann natürlich auch, was man selbst beizutragen hat an Ressourcen und Zeit und Geld und Energie und Willensstärke. Und dann lohnt es sich auch zu fragen, wie man langfristig mit dem eigenen beruflichen Weg vielleicht auf lange Sicht einen möglichst nachhaltigen Beitrag zu einer möglichst großen und drängenden globalen Herausforderung leisten kann auf allen gesellschaftlichen Ebenen.

Sarah: Super, ich danke dir ganz, ganz herzlich, es war ein sehr spannendes Gespräch, danke dir!

Adriano: Nichts zu danken. Vielen Dank dir.

 

Das war die zweite Folge des Wirklich Gut-Podcasts mit Adriano Mannino! Ihr findet Adrianos Leseempfehlungen und Links zu seinen Büchern und anderen Projekten in den Shownotes. Das Transkript sowie eine Zusammenfassung des Gesprächs mit weiteren Infos findet ihr außerdem auf wirklichgut-podcast.de.

Ich freue mich sehr auf Feedback, Fragen und Themenvorschläge per Mail an hallo@wirklichgut-podcast.de oder bei Twitter unter Wirklich Unterstrich Gut. Wenn die Folge euch gefallen hat, teilt sie gerne!

Finanziert wird der Podcast vom Effective Altruism Infrastructure Fund.

Danke fürs Hören und bis zum nächsten Mal!

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