Nr. 2
pressebild_2.jpeg

Adriano Mannino über gerechte Verteilung knapper Ressourcen

Der Moralphilosoph hat während der Pandemie ein Buch über Triage geschrieben: die Aufteilung knapper medizinischer Ressourcen in Notsituationen. Das Konzept überträgt er auf Bereiche wie Entwicklungszusammenarbeit und Katastrophenprävention. Wie lassen sich knappe Ressourcen gerecht verteilen? Wie sollen Tiere und noch ungeborene Menschen einbezogen werden?

Für anonymes Feedback zu dieser Folge hier entlang: https://forms.gle/NdU7Ad8JJHGjszCA9

In Folge 2 habe ich mit Adriano Mannino geredet. Der Moralphilosoph und Politikberater forscht an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und veröffentlicht regelmäßig aus philosophischer Perspektive seine Gedanken zu aktuellen Themen. Während der Corona-Pandemie hat er ein Buch über das Thema Triage geschrieben - also die Aufteilung knapper medizinischer Ressourcen in Notsituationen. Adriano und ich sprechen über Kriterien, die medizinisches Personal bei diesen Triage-Entscheidungen anlegen kann - umstrittene wie das Alter von Patient*innen und weniger umstrittene wie die Erfolgsprognose einer Behandlung. Außerdem besprechen wir, wie sich das auch auf andere Entscheidungen übertragen lässt, zum Beispiel auf das eigene Spendenverhalten und Katastrophenprävention. Am Ende machen wir noch einen Abstecher zur moralischen Bewertung von Tieren - und Adriano erzählt, warum er sich gerade besonders für die Stärkung von Demokratie interessiert. Das Gespräch wurde im November 2021 aufgezeichnet.

Was wir erwähnt haben:

Was Adriano empfiehlt:

  • Peter Singer, utilitaristischer Philosoph, dessen Bioethik Adriano ablehnt, dessen Beiträge zur Weltarmuts- und Tierethik Adriano aber schätzt: Zum Beispiel "The Life you can save" - kostenlos hier erhältlich; "All Animals are Equal" - erscheint im Februar 2022 in deutscher Übersetzung von Adriano Mannino und Marina Moreno, mit einem langen Kommentar der beiden zu Singers Text

  • Literatur aus dem Effektiven Altruismus, Leseliste zum Beispiel hier oder hier über leidfokussierte Ethik

  • Kantianismus: Immanuel Kant ist im Original nicht leicht zu lesen, Einsteiger*innen empfiehlt Adriano Tim Hennings Buch über kantische Ethik

  • Kontraktualismus: Julian Nida-Rümelin über "Demokratie als Kooperation" und "Die gefährdete Rationalität der Demokratie", T. M. Scanlons "What We Owe to Each Other" sowie John Rawls' Gerechtigkeitstheorie

Weiterführende Lesetipps:

Die Themen

Mikrotriage in Krankenhäusern
(ab Min. 00:06:30 )

  • Zum (umstrittenen) Triage-Kriterium des Lebensalters: "Also angenommen, wir haben eine 80-jährige Person, der noch zehn Jahre bleiben und eine 40-Jährige, der aufgrund einer schweren Vorerkrankungen auch nur zehn Jahre bleiben. Ein Kriterium, das die verbleibenden Lebensjahre berücksichtigt, würde hier keinen Unterschied machen. Aber klarerweise gibt es einen relevanten Unterschied zwischen den Fällen, der gerechtigkeitstheoretisch relevant ist. Die ältere Person, die 80-Jährige, die wurde an Lebensjahren sozusagen schon reich beschenkt. Also sie ist reich an Lebensjahren, wohingegen die vierzigjährige Person, der auch nur noch zehn Jahre bleiben, vergleichsweise arm an Lebensjahren ist. Und die Lebensjahre sind eines der wichtigsten Güter überhaupt. Und deswegen stellt sich auch hier natürlich die Frage nach einer gerechten Verteilung. Und da ist als ein Kriterium ein Vorrang der vergleichsweise schlechter Gestellten relevant. Denn wenn die junge Person stirbt, dann stirbt sie eben mit ihren 40 Jahren. Wenn die alte Person stirbt, dann stirbt sie mit achtzig. Und wenn man in diesem Konfliktfall die ältere Person rettet, dann verteilt man das vielleicht vitalste der Güter sozusagen um von den Armen zu den Reichen bzw. man macht die Reichen an Lebensjahren noch reicher, während die Armen arm bleiben. Und das scheint hochgradig ungerecht."
  • Adriano zeigt ein Argument für ein Verursacherprinzip als Kriterium der gerechten Lastenverteilung bei Triage-Entscheidungen auf, beispielsweise mit Blick auf Ungeimpfte. Dafür zieht er eine Analogie: "Und hier glaube ich schon, dass es je nachdem vernünftig sein kann, den Impfstatus auch zu berücksichtigen. Da kann man zum Beispiel per Analogie so argumentieren: Stellen wir uns vor, wir haben zwei Wandergruppen A und B, die in einer Dürreperiode durch einen Wald wandern. Und es gibt die klare, offizielle, vielleicht auch staatliche Empfehlung, nicht zu rauchen und nicht zu grillen in dem Wald. Denn es besteht Brandgefahr, Flächenbrandgefahr. Und sagen wir nun, die Gruppe A halte sich an die Regel, Gruppe B nicht. In der Gruppe B wird geraucht und prompt kommt es zu einem Flächenbrand. Dann kommt der rettende Hubschrauber, der aber nur eine der Gruppen aus dem Feuer ziehen kann. Jetzt kann man sich vorstellen, dass man dort als Pilot oder Pilotin agiert. Und dann wäre man wiederum rechtlich in einer rechtfertigenden Pflichtenkollision und hätte sozusagen rechtlich die Freiheit, dem eigenen Gewissen und der eigenen moralischen Vernunft zu folgen. Wer könnte das jetzt wirklich mit dem eigenen Gewissen vereinbaren, diejenige Gruppe zu retten, die den Waldbrand fahrlässig verursacht hat?"

Makrotriage - wie verteilen wir begrenzte Ressourcen in anderen Bereichen?
(ab Min. 00:36:35 )

Adriano nennt klassische Triagesituationen in der Medizin Mikrotriage und unterscheidet dies vom Konzept der Makrotriage - wenn es in anderen und größeren Kontexten ums Aufteilen begrenzter Ressourcen geht. Hier einige der Themen, über die wir im Zusammenhang mit sogenannter Makrotriage gesprochen haben:

Extreme Armut

  • "Auch auf persönlicher und alltäglicher Ebene - ich glaube, das muss man sich auch vergegenwärtigen - triagieren wir zumindest implizit nolens volens die ganze Zeit. Wann immer wir uns selbst materielle Ressourcen zuteilen und zum Beispiel Luxusgüter erwerben, entspricht das auch in gewisser Weise einer Form der Makrotriage, weil das sind dann immer Ressourcen, die wir zum Beispiel nicht den global Ärmsten zuteilen."
  • "Also wenn man hier einfach ohne Weiteres aufrechnet oder aufrechnen würde, dann käme man zum Schluss, dass wir jetzt im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit die allermeisten Ressourcen, wenn nicht eigentlich alle Ressourcen, den allerärmsten Ländern bzw. Einwohnern dort zugutekommen sollten, weil dort kann man pro Geldeinheit, pro Ressourceneinheit am meisten bewirken. Und da kann man sich aber fragen: Na gut, wäre das denn gerechtigkeitstheoretisch ohne Weiteres zu vertreten, zu rechtfertigen? Gegenüber Personen der globalen Mittelklasse zum Beispiel, die vielleicht mit fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn Dollar pro Kopf und Tag leben. Das ist auch nicht viel. Die haben auch stark zu leiden und die tragen auch ihre moralischen Ansprüche an uns heran, so dass man dann überlegen müsste, die knappen zur Verfügung stehenden Ressourcen auch noch in gerechter Weise aufzuteilen."
  • Adriano schlägt ein Punktesystem vor (ähnlich jenem, das bei der Verteilung knapper Spenderorgane bereits gesetzlich gilt und auch bei der akuten Triage angewandt werden könnte), um zu bestimmen, welche Gruppen global wie viel Geld erhalten könnten: "Und deswegen könnte man dann auch sozusagen Priorisierungspunkte bestimmen. Und die Ärmsten der Armen hätten dann wohl die höchste Priorisierungspunktzahl. Die globale Mittelklasse hätte aber auch eine durchaus ansehnliche Punktzahl und dann könnte man dann die knappen Ressourcen vielleicht proportional verteilen, also in der entsprechenden Proportion zur Anzahl der Priorisierungspunkte. Und so könnte man diese unplausible extreme Konklusion vermeiden, dass die ganzen zur Verfügung stehenden Mittel einfach nur an eine Gruppe gehen, die den größten Bedarf hat. Das wären die Ärmsten der Armen, die angesichts der höchsten Punktzahl den größten Anspruch erheben können. Aber andere Menschen haben eben auch Ansprüche."

Katastrophenprävention

  • "Ich glaube, es gibt ein krasses gesellschaftliches Underinvestment im Bereich der Katastrophenprävention. Man kann jetzt alle möglichen Katastrophen, die uns drohen, durchdeklinieren und ich glaube, das Pattern ist überall dasselbe. Es wird einfach radikal zu wenig investiert, egal wie man es dreht und wendet - ob prudentiell im Sinne des Nutzens für unsere eigene, lokale Gesellschaft oder altruistisch und global."
  • "Wir müssen Katastrophen auch als Katastrophen fühlen, um dann entsprechend in adäquatem Maße Ressourcen zu investieren. Und wenn wir das tun würden, dann würde sich eben auch der Triagedruck sofort reduzieren. Also wir hätten dann wirklich auch hinreichend... also hinreichen würde es nicht, weil es gibt noch so viele Individuen da draußen, wenn man sie alle adäquat berücksichtigen will: Die global Armen, die Tiere, alle künftigen Menschen. Wir werden nicht allen helfen können, aber wir könnten den Triagedruck zumindest ganz massiv reduzieren, wenn wir gewillt wären, einfach viel, viel mehr Ressourcen in die Prävention und Reduktion laufender und potenzieller Katastrophen zu investieren."

Der moralische Wert von Tieren
(ab Min. 01:17:23)

  • "Man wächst halt auf in einer Gesellschaft, in der der Fleischkonsum zum Beispiel der Norm entspricht und beginnt irgendwann vielleicht darüber nachzudenken. Vielleicht sieht man auch Bilder. Auch das sind philosophische Argumente. Man sieht Bilder vom ganzen Tierleid und was wir diesen Tieren antun. Und ja, macht sich dann Kohärenzüberlegungen und fragt sich: Was, wenn das Hunde wären? Und empirisch ist es so, dass Schweine mindestens so empfindsam und wohl noch intelligenter sind als Hunde. Ja, wenn das Hunde wären, dann wäre der Straftatbestand der Tierquälerei unstrittig. Und warum soll es dann rechtens sein, das mit Schweinen zu tun oder Hühnern?"
  • Im Februar 2022 erscheint eine deutsche Übersetzung von Peter Singers "All Animals are Equal", zu der Adriano sowie seine Co-Autorin Marina Moreno einen langen Kommentar verfasst haben

Demokratie

(ab Min. 01:27:17)

Adriano interessiert sich aktuell besonders für die Förderung von Demokratie - das hat auch etwas damit zu tun, dass er wichtige Gruppen in der Gesellschaft nicht repräsentiert sieht.

  • "Diese Entscheidungen, die wir hier demokratisch wählen, haben Auswirkungen auf die Ärmsten, haben Auswirkungen auf die Tiere und über die Umwelt und auf anderen Wegen auf künftige Generationen usw. Und das wirft die philosophische und vielleicht auch politologische Frage am Ende auf, wie man diese Populationen am besten repräsentieren kann - im Rahmen unserer Demokratie."
  • "Zum Beispiel ist die Möglichkeit gegeben, einen Anwalt einzuführen, einen Anwaltsposten für künftige Generationen. Dann gibt es Möglichkeiten der legislativen Repräsentation. Ein interessanter Vorschlag - der stammt nicht von mir selbst, aber der geistert schon länger in der Literatur rum: ist die Möglichkeit eines Bürgerrats für künftige Generationen im Sinne eines angereizten Zukunftsparlaments. [...] In 30 Jahren könnte abgerechnet werden. Da könnte man dann im Rückblick zu bestimmen versuchen – vielleicht müsste dann das oberste Gericht im Staate darüber befinden –, ob die Mitglieder dieses Zukunftsparlaments vor 30 Jahren sinnvolle Vorschläge gemacht haben, die beherzigt wurden oder auch nicht. Und wer wirklich sinnvolle Vorschläge gemacht hat, der würde dann vielleicht zum Millionär. Wenn man sich vorstellt, dass wir vor 30, 20 oder 10 Jahren schon ein solches Zukunftsparlament gehabt hätten, dann wären dort vielleicht Vorschläge zur Pandemieprävention unterbreitet worden. Das könnte einen Beitrag dazu leisten, dass die Politik sich langfristiger orientiert. Denn aktuell sind die Anreize sehr stark, sich einfach auf die nächsten vier Jahre zu fokussieren, auch darauf, was vielleicht dem eigenen Machterhalt dient."
pageview counter pixel